Erfrischend und frech: Küchenchemie

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scarletta Avatar

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Die Chemie und ich sind in der Schule nie Freundinnen geworden, obwohl (oder weil) ich Chemie als Abifach hatte. Warum habe ich mir dann ausgerechnet diesen Roman vorgeknöpft? Irgendwie machte mich das Coverfoto dieser bieder gekleideten aber frech und selbstbewusst schauenden jungen Frau neugierig. (Die Cover der englischen Ausgaben sind weitaus kecker illustriert, so nebenbei).

Die Autorin Bonnie Garmus, eine 64jährige Kreativdirektorin, katapultiert uns in die Muffigkeit des Jahres 1961 und in das Leben einer leidenschaftlichen Naturwissenschaftlerin.
Dass es ihr Debüt ist, fand ich sehr bemerkenswert. Denn wie sie kritisch, aber stets voller Humor über Emanzipation, den Kampf um weibliche Anerkennung und gegen sexuelle Diskriminierung schreibt, ist ein Einstieg auf höchstem Niveau.

Ihrer Zeit voraus
Die Hauptfigur Elizabeth Zott ist eine junge Frau mit hohen wissenschaftlichen Ambitionen. Dass sie bereits in ihrer Kindheit In den 1950iger Jahren aneckt und in der Außenseiterrolle landet, wundert nicht.

Als talentierte Chemikerin, zielstrebige Feministin und überzeugte Atheistin lehnt sie das patriarchalisch orientierte Frauenbild jener Zeit ab, in der die Welt nur für die Männer gemacht zu sein scheint. Was sie erlebt ist typisch: Als Frau sind Lohn und Chancen im Beruf ungleich verteilt. Dafür werden ihr Wissen, Können und ihre Persönlichkeit nicht anerkannt, sondern ausgenutzt. Doch Elizabeth weigert sich, diese Gegebenheiten zu akzeptieren. Sie kämpft gegen die Erwartungen der Gesellschaft an Frauen und die Konventionen an.

Wir lernen die recht exzentrische Elizabeth Zott 1961 kennen. Zu dieser Zeit ist sie eine 30jährige alleinerziehende ledige Mutter und ein eher widerwilliger, stets ernsthafter Star einer Kochshow für Hausfrauen „Essen um sechs“. Wie kommt sie um Himmels Willen als perfekt ausgebildete Forschungschemikerin denn in diese biedere Nachmittagsshow? Hat sie nicht in ihrer akademischen Laufbahn ihre Fähigkeiten und Talente bewiesen? Wie sie dann in der Rolle als „leckere Lizzy“ gelandet ist, erzählt ein Zeitsprung ein Jahrzehnt zurück. Wir ahnten es bereits: weibliche Wissenschaftlerinnen wurden voller Neid, Missgunst und Misstrauen von ihren männlichen Kollegen und Vorgesetzten beäugt.

Schon als Studentin wurde Elizabeth Ziel von Angriffen gegen ihre Person und Reputation, von sexuellen Übergriffen, Diebstahl ihrer wissenschaftlichen Arbeiten bis zu alltäglichen Frauenfeindlichkeit (sogar andere Frauen haben da ausgeteilt).

Selbst als sie ihren Seelenverwandten im einsamen, etwas nachtragenden, einzelgängerischen doch brillanten, Nobelpreisnominierten Chemiker Calvin Evans findet, wird ihnen dieses Glück von den Kollegen am Hastings Forschungsinstitut missgönnt. Doch bei den beiden Verliebten stimmt eben die Chemie.

Kochen ist Chemie
10 Jahre später muss Elizabeth, dank männlichem Chauvinismus schauen, dass sie den Unterhalt für sich und ihre recht frühreife Tochter Madeline erarbeitet. „Mad“ soll gesund ernährt und auch geistig gleichberechtigt gefördert und gefordert werden, meint ihre tapfere Mutter. In der Lunchbox für die Schule findet Madeline nicht nur immer wieder motivierende Zettel ihrer Mutter, sondern auch deren köstliche Kochkunstwerke. Denn für die ist Kochen auch Chemie.

Eh sie sich versieht, findet sich die brillante Chemikerin eher widerstrebend als Moderatorin der konservativen Kochshow „Essen um sechs“ vor der Kamera wieder. Natürlich drückt sie alsbald der Sendung ihren ganz persönlichen Stempel auf. Elizabeths Art, gesund und köstlich zu kochen – einschließlich der Formulierung ihrer Rezepte – ist eher unkonventionell, sehr naturwissenschaftlich und revolutionär orientiert. Doch bald avanciert sie zum Geheimtipp der Zuschauerrunde. Dabei würde der Sender sie am liebsten sogleich absetzten.

Statt wie gewünscht im ansprechendem knackigen Outfit, steht sie im Laborkittel vor der Kamera wie immer mit dem Bleistift hinter dem Ohr und ernst blickend. Ihr weibliches Publikum liebt es, wie Elizabeth die Kochsendung als aufmüpfige Plattform nutzt, um die Hausfrauen zu ermutigen, ihre Fähigkeiten zu nutzen und ihr Leben zu verändern.


Fazit
Wunderbar, wie die Autorin in diesem Buch die Tragik und Ernsthaftigkeit von Elizabeths Werdegang mit Humor, Witz, Comedy-Anklängen, großem Scharfsinn und Frechheit erzählt. Immer wieder schwankt man zwischen Lachen, Rührung und echter Empörung über die Zustände in jenen Jahren. Auch wenn sich mehrere Generationen von Frauen seitdem ins Zeug gelegt haben, die Bedingungen zu ändern: es gibt, wie wir wissen, immer noch genug zu tun. Oft genug dachte ich beim Lesen, dass da auch heute noch einiges im Argen liegt.

Die Autorin greift viele Lebensfragen auf: Verlust, Liebe, Wahrhaftigkeit… und baut eine Vielzahl überraschender, mal trauriger und mal witziger Wendungen ein.

Es tauchen einige sehr unsympathische Figuren auf, so dass man froh ist über das Gegengewicht der guten Charaktere. Spannend ist dabei die Entwicklung der Beziehung zwischen Elizabeth und den Menschen, die ihr im Leben begegnen. So zum Beispiel Harriet, ihre unglücklich verheiratete Nachbarin. Eigentlich hatte diese sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Doch Elizabeth verändert die Leben der Menschen, die sie trifft oft unbeabsichtigt. So auch das von Harriet.
Einer meiner Lieblingscharaktere ist übrigens „Halbsieben“. Auf den könnt ihr euch freuen. Er ist wie das Natriumchlorid in der Suppe…