Nach Regeln leben?

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1966 besucht die New Yorkerin Kate zusammen mit ihrem Mann eine Fotoausstellung im Museum of Modern Art. Auf zwei der Bilder sieht sie Tinker Grey, einen Mann, den sie Silvester 1937/1938 kennenlernte und der sie das Jahr 1938 über begleitete.
Zusammen mit ihrer Freundin Eve war sie Silvester 1937 auf 38 unterwegs und lernten durch Zufall in einem Restaurant Tinker Grey kennen. Eine Art Freundschaft beginnt, die ersten Tage und Wochen des Jahres 1938 beginnen sie gemeinsam, doch schon bald wird ihre Freundschaft auf eine Probe gestellt. Anfang des Jahres werden sie Opfer eines Verkehrsunfalles, bei dem einer der Drei schwer verletzt wird...
Der Leser begleitet Kate, Eve, Tinker und noch einige andere Personen durch das Jahr 1938. Es sind emporstrebende junge Leute, mit unterschiedlichen Herkünften und verschiedenen Startpositionen ins Erwachsenenalter, sie wollen dazugehören, Erfolg und Spaß haben, sie sind auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, auf der Suche nach sich selber...

Nach Regeln leben?

Amor Towles hat mit seinem Roman ein Porträt der Gesellschaft New Yorks Ende der 30er Jahre geschaffen. Schnell konnte man den Aufstieg schaffen und schnell konnte man tief fallen. Beruflicher und privater Erfolg waren nicht zuletzt von Beziehungen zu einflussreichen Menschen abhängig. Diese Tatsache spielte im Handeln von Kate und ihren Freunden, eine Rolle, ob bewußt oder unbewußt, möchte ich an dieser Stelle nicht klären, es sei nur so viel gesagt, das diese Frage eine Menge Diskussionpotential mit sich bringt.
Auf den ersten Blick scheint "Eine Frage der Höflichkeit" eine Liebesgeschichte zu sein und vielleicht trügt dieser erste Blick nicht. Der Roman erzählt aber nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch die Liebe zu New York, die Liebe zum Leben, die Liebe zur Literatur und zur Kunst.
Der Roman erzählt aber auch darüber, wie schwer es ist, seinen eigenen Weg zu gehen, gehen zu können, wie schwer es ist, seinem inneren Kern treu zu bleiben, ihn gar erst zu finden.
Das Streben nach Glückseligkeit, ist bei den meisten Menschen mit Erfolg, mit Geld, mit materiellen Gütern sehr eng verbunden. Doch was passiert, wenn man am Gipfel des Erfolges merkt, dass es nicht das Leben ist, welches dem ureigensten Wesen entspricht und wie geht man damit um, wenn man durch einen anderen Menschen erst darauf aufmerksam gemacht werden mußte?
Man begegnet einem Menschen zum ersten Mal und bildet sich schon nach kurzer Zeit eine Meinung, meistens geschieht dieses ohne die notwendigen Informationen über diesen Menschen zu besitzen. Wahrscheinlich ist kaum ein Mensch vor dieser Reaktion geschützt, doch nicht selten kommt es vor, dass die erste Meinung revidiert werden muß. Ist es nicht Zufall, wenn man mit seiner ersten Einschätzung richtig liegt? Kate, aus deren Sicht ein Großteil des Romans erzählt wird, kommt immer wieder in die Situation sich vorschnell eine Meinung zu bilden, um dann, manchmal erst nach Jahren herauszufinden, dass sie den Menschen falsch eingeschätzt hat. Dabei möchte man doch meinen, dass ein sehr belesener Mensch, wie ihn Kate im Roman darstellt, über eine ausgeprägtere Menschenkenntnis und mehr Empathie verfügt.
Schafft man es leichter seine Ziele zu erreichen, wenn man sich an bestimmte Regeln hält, Regeln die andere aufgestellt haben? Man gibt seine eigene Individualtität auf und richtet sich nach den Vorgaben, Ansichten und Ansprüchen anderer, man macht sich zum Spielball. Wie weit kommt man mit diesem Verhalten und ist es verwerflich sich für den Erfolg zu verkaufen, bewußt zu verkaufen? Kann man andere durch dieses Verhalten vielleicht sogar manipulieren und handelt es sich dann überhaupt noch um eine Aufgabe seiner Individualität? Und vor allem, was hat überhaupt zu diesem Verhalten geführt? Hätte man sich vielleicht mit einer anderen Herkunft anders verhalten? Verfolgt man die Figur Tinker im Roman, bekommt man auf einige dieser Fragen eine Antwort.
Leben bedeutet auch immer, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen die das eigene Leben und nicht selten auch das Leben anderer, für viele Jahrzehnte beeinflussen. In vielen Fällen kann man vorher nur schwer erahnen ob eine Entscheidung richtig war. Man steht im Laufe seines Lebens an unzähligen Weggabelungen und oft ist es einfach nur Zufall sich für den richtigen oder eben auch falschen Weg entschieden zu haben. Auch das ist ein Thema dieses Romans, genauso wie die Vergänglichkeit des Lebens, das Vergehen der Zeit. Eben war man noch jung und voller Träume, Pläne, Hoffnungen, Zuversicht und plötzlich schaut man auf ein gelebtes Leben zurück. Im Rückblick erscheinen Ereignisse anders, als mit weniger Distanz betrachtet.
Leben bedeutet Verlust. Verlust der eigenen Kräfte, Verlust von anderen Menschen, Verlust von Hoffnungen, Verlust von Träumen. Doch vielleicht steckt in fast jedem Verlust auch ein Gewinn?
Viele verschiedene Charaktere begegnen dem Leser im Laufe der Lektüre. Einige bleiben blass, andere erscheinen etwas farbenfroher, aber jeder Charakter prägt diese Geschichte und ich glaube, das kein einziger fehlen dürfte. Nicht jede Figur begleitet den Leser durch das gesamte Buch, einige treten nur sehr kurz auf, zwischenzeitlich wimmelt es von Namen und dennoch fällt es nicht schwer den Überblick zu bewahren.
Dafür wird dieser Roman von anderen Romanen durchgehend begleitet, Dickens, Thoureau, Whitman, Christie, sie ziehen sich durch die Geschichte und haben viel mit ihr zu tun. Die Romane werden nicht einfach so erwähnt, es bestehen Zusammenhänge zur Handlung des Romans, was ich ganz großartig fand.
"Eine Frage der Höflichkeit" ist ein Roman, der viele mich beschäftigende Themen aufweist, deren Charaktere ich ansprechend und interessant, wenn auch nicht immer sympathisch fand. Allerdings hat dieser Roman eine große Schwachstelle und das ist die Übersetzung. Rechtschreibfehler, Fehler in den Zeitformen, ganze Wörter werden ausgelassen oder vertauscht. Es gibt in dem Buch mehrere Sätze die so, wie sie im Buch stehen, keinen Sinn ergeben. Der Lesefluß wird dadurch doch sehr beeinträchtigt. Mir kam es beim Lesen oft so vor, als hätte die Übersetzerin, Susanne Höbel, den Text Wort für Wort übersetzt, so dass er an vielen Stellen zu holperig wirkte. Ich fand es wirklich irgendwann schon sehr ärgerlich.
Wer Interesse an dem Roman hat und der englischen Sprache mächtig ist, sollte darüber nachdenken ihn im Original zu lesen.
Ein besonderes Highlight dieses Buches sind übrigens die 110 Regeln der Höflichkeit und des angemessenen Benehmens in Gesellschaft und Koversation. Diese Regeln hatte der erste US-Präsident, George Washington, aus einem jesuitischen Erziehungsbuch aus dem 16. Jahrhundert abgeschrieben.

Im Laufe eines Lebens begegnen einem viele Menschen, mit einigen hat man mehr zu tun, mit anderen weniger, einige prägen einen mehr andere weniger, manche vergisst man, andere bleiben in ewiger Erinnerung. Charaktere aus Büchern können einem nicht verloren gehen und wenn doch, dann braucht man nur das Buch erneut zu lesen. Bücher können einen nicht verletzen, sie bieten Trost, Schutz, Zuflucht und öffnen einem manchmal auch Türen zu einem Leben, zu dem einem die Tür ohne Literatur verschlossen geblieben wäre.
In diesem Sinne möchte ich euch dieses Buch sehr gerne empfehlen, mit Hinweis darauf, dass es eventuell von Vorteil sein könnte, sich dem Original zu widmen.