Mit den Krallen des Todes auf der Schulter

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buecherfan.wit Avatar

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Mit "Eine Frau bei 1000 Grad" legt der isländische Autor Hallgrímur Helgason die fiktive Autobiografie von Herbjörg Maria Björnsson vor. Herbjörg ist 80 Jahre alt, wiegt nur noch 40 Kilo und hat Krebs im Endstadium. Sie lebt in einer gemieteten Garage. Wie viele Isländer hat sie ihre Erspanrisse im großen Börsencrqash verloren. Ihr Fenster zur Welt ist ihr Laptop. Freunde hat sie nicht in der Realität, sondern bei Facebook. Ihr kostbarster Besitz ist eine Handgranate aus dem zweiten Weltkrieg, die sie in ihrem Bett aufbewahrt. Herbjörg lässt ihr langes, ereignisreiches Leben  vor ihrem inneren Autge Revue passieren, erinnert sich an die vielen Männerbeklanntschaften, u.a. an die drei Väter ihrer Söhne, die alle Jon hießen. Sie ist viel in der Welt herumgekommen. Ausführlich berichtet sie über die Begegnung mit den Beatles in einem Hamburger Club, als sie fast eine Affaire mit John Lennon hatte. Sie kommentiert ebenso ausführlich  wie verächtlich die Beziehung von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die für sie das Paradebeispiel von berühmt gewordenen Widerlingen sind. 

Erzählt wird aus der Perspektive der alten Frau und zwar nicht chronologisch. Die Ich-Erzählerin springt zwischen den Jahrzehnten und den Schauplätzen hin und her. Das erfordert Aufmerksamkit beim Lesen, ist aber nicht schwierig. Wer schon einmal einen Roman von Helgason gelesen hat  -  zum Beispiel "10 Tipps..." - weiß, dass seine Romane sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr speziell sind. Da kategorisiert Herbjörg Männerfürze oder rät ihrer jungen, sympathischen Betreuerin Lóa "Du musst endlich mal einen ranlassen. Oder willst du eine schimmelige Jungfrau werden?" Ihre eigene Situation und ihren physischen Verfall beschreibt sie mit brutalem Realismus und zum Teil eindrucksvollen Metaphern: "... , unfrisiert und auf Kissen verschimmelnd, mit einem veralteten Computer auf dem Bett und den Krallen des Todes auf der Schulter."  Noch bemerkenswerter ist die Passage im 8. Kapitel "Versinken" auf S. 20-21. Manches ist derb, vieles ist witzig, aber interessant ist es allemal. Mir ist klar, dass Helgason sehr stark spaltet, aber mir gefällt, wie er schreibt.