Die Memoiren der Herbjörg B.

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Als diesjähriges Gastland stand Islands Literatur inmitten der Aufmerksamkeit der deutschen Buchbranche – und mit ihm auch Hallgrimur Helgason, hat er doch mit „101 Reykjavik“ den isländischen Kultroman schlechthin abgeliefert. Sein neues Werk „Eine Frau bei 1000°“, erschienen im Tropen-Verlag von Klett-Cotta, war eines der Bücher, auf die sich das Hauptinteresse konzentrierte, was durch entsprechende Marketing-Kampagnen noch befeuert wurde.

Im Zentrum der neuen Geschichte steht die 80-jährige Herbjörg, die befindet, dass es irgendwann genug ist. Sie hat ein reiches Leben gelebt, zahlreiche Persönlichkeiten kommen und gehen gesehen, drei Kinder von acht Männern geboren und die Geschichte des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib miterlebt. Nun, da sie bettlägerig in einer alten Garage darniederliegt, bestellt sie ihre eigene Kremation vor und vertreibt sich die Zeit, bis es soweit ist, mit dem Surfen quer durchs Internet und dem Erzählen ihrer Geschichte. Immer wieder wirft sie den Blick zurück und lässt den Leser teilhaben an ihrem und dem europäischen Schicksal.

Diese Sprunghaftigkeit der Handlung ist es allerdings auch, die mir den Lesegenuss an „Eine Frau bei 1000°“ etwas vergällt hat, da eigentlich keine stringente Erzählung vorliegt. Mal ist man im Jahr 2009, in dem Herbjörg auf ihre Einäscherung wartet und quer durchs Netz surft, dann ist man mal wieder bei ihren Erinnerungen an Personen, die sie kennen lernte, dann schweifen ihre Erinnerungen wieder ab, wenn sie an bestimmten Details in ihrer Erinnerung hängen bleibt. Das übt zwar oft einen großen Reiz aus, an manchen Stellen war es mir aber einfach zuviel des Guten. Auch die ganzen Namen, die Helgason seiner Herbjörg mit auf den Weg gibt, sind stellenweise einfach zu viel und zu kompliziert, als dass man sie sich über einige Seiten des Buches hinaus merken könnte. So fühlte ich mich manchmal einfach von der Fülle der isländische –urs und –jörgs überfordert und musste zurückblättern, um die Bedeutung der Protagonisten zu verstehen. Dies verleidete mir den Lesegenuss.

Nichtsdestotrotz bietet „Eine Frau bei 1000°“ ein faszinierendes Porträt einer wirklich authentischen und originellen Figur, die alle Höhen und Tiefen des Lebens erlebt hat. Symptomatisch für den Charakter der Herbjörg Maria Björnsson ist folgende Textstelle: „Ich passte nirgends hin und eckte überall an. So war es mein ganzes Leben lang. In Argentinien hielten die Leute mich für eine Deutsche und sahen mich schief an. In Deutschland kamen sie dahinter, dass ich in Argentinien gewesen war und sahen mich schief von der Seite an. Zu Hause war ich Nazi und in den USA Kommunistin. In Island galt ich als welterfahren, auf Reisen zu isländisch (…)“.  (Seite 112). Hier zeigt sich die innere Zerissenheit einer Frau, der es nie vergönnt war, das Glück dauerhaft bei sich zu behalten.

Bücher sind wie Schiffe, die das Meer der Zeit durchsegeln (Francis Bacon)