Fegefeuer

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theresia626 Avatar

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Aus den Memoiren der Herbjörg Maria Björnsson.
Herbjörg Maria Björnsson, eine 80 Jahre alte „Matratzenhyäne“ und mit losem Mundwerk ausgestattete „mondäne Dame von Welt“, lebt mit einer Handgranate, „diesem deutschen Stahlei“, die ihr ihr Vater 1942 geschenkt hatte, in einer Garage. Licht fällt durch ein einziges Fenster, „den Nichtbegrabenen“ ist sie nur noch eine Last. Sie hat Krebs im Endstadium und ihre Krankenpflegerin Loa, die „Beine wie vierzigjährige Birkenstämme“ hat, kümmert sich aufopferungsvoll um sie. Hinterhältige Rachefeldaktionen gegen ihre Schwiegertöchter betreibt sie nach einer zweiwöchigen Schulung auf ihrem alten Laptop. Ein Pfleger hatte aus ihr 2002 einen Computerfreak gemacht und diverse E-Mailadressen eingerichtet, seitdem ist sie online. Inzwischen hat sie auf Facebook über 700 Freunde und verschickt anzügliche Nachrichten, unter falschem Namen versteht sich, in die weite Welt. Ohne jedes erkennbare System erzählt Herra, die Ich-Erzählerin, ihre Lebensgeschichte. „Ach, ich komme vom einen aufs andere, und das eine oder andere kommt über mich. Wenn man ein ganzes Internet an Erlebnissen hinter sich hat, eine Schiffsladung voller Tage, dann fällt es schwer, auszusortieren und eins vom anderen getrennt zu halten. Entweder erinnere ich mich an alles auf einmal oder an gar nichts.“ (S. 6) In diesem Stil ist der ganze Roman angelegt. Der Leser erfährt, daß Herra Marlene Dietrich begegnet ist und fast ein Verhältnis 1960 mit John Lennon  in Hamburg  gehabt hätte und sich heute noch ärgert, daß sie die ihr von ihm angebotene Zigarette nicht behalten hat, weil sie jetzt ein Vermögen auf ebay bringen würde. Denn Geld bräuchte sie schon, immerhin lebt sie seit acht Jahren in der Garage. Ihre Söhne haben für ein großes Vermögen ihr Haus verkauft und das Geld unter sich aufgeteilt. Aber Herra Björnsson hat nicht nur eine spitze Zunge und teilt ständig in alle Richtungen aus, sie hat auch eine sehr verletzliche Seite und ist froh, daß es Derek Ende der 70iger Jahre noch nicht gegeben hat.

Aufgeteilt in 119 kurze Kapitel ist „Eine Frau bei 1000°“ kein Buch, was man gemütlich so nebenbei lesen kann. Anfänglich noch amüsant und kurzweilig, später, was die Zeiten des Krieges betrifft, schonungslos und traurig. Sind die Zeitsprünge anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, machen sie dann aber die Stärke des Buches aus. Die schreckliche Zeit von Herra beginnt, als sich ihr Vater 1937, als wohl einziger Isländer, für die Nazis entscheidet. Der Übergriff eines Polen in einer Waldhütte 1944 war der Beginn qualvollen körperlichen Leids. Nicht nur ihr Vater gerät in Gefangenschaft, auch Herra wird gefangen gehalten und das wohl Schrecklichste was ihr passiert und sie heute noch unsagbar traurig macht, geschieht in Argentinien.  Herbjörg Maria Björnsson haben die Zeiten des Krieges hart und auch manchmal herzlos gemacht. Nach ihrer ersten Vergewaltigung kann sie nicht einmal weinen. Es ist der außergewöhnliche Schreibstil des Autors, der „Eine Frau bei 1000°“ so hervorragend macht. Dichtung und Wahrheit werden bei dem vorliegenden Roman sehr eng beieinanderliegen. In einem Interview sagte Hallgrimur Helgason, er wäre von dem Leben einer Isländerin, die 10 Jahre einsam in ihrem Bett in einer Garage lebte, inspiriert worden. Diese hatte eine Autobiographie veröffentlicht und war wirklich die Enkelin des ersten isländischen Präsidenten und auch ihr Vater hatte im Krieg auf seiten der Nazis gekämpft. Herausragend war u.a. das Kapitel Fegefeuer, allein schon von der Idee und den Dialogen her. Empfehlenswerte Lektüre.