Lebenslange, ununterbrochene Flucht

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Herbjörg María Björnsson ist 80 Jahre alt und schwer krebskrank. Der Arzt hat ihr schon vor vielen Jahren eine Prognose von wenigen Monaten gestellt, doch sie ist zäh und lebt noch immer. Sie vegetiert in einer Garage vor sich hin, in der es kaum Möbel gibt. Besuch erhält sie nur von ihren beiden Krankenschwestern. Ihre drei Söhne sowie die Schwiegertöchter lassen sich so gut wie nie blicken. Geld hat sie keines, nachdem ihre Kinder, als Krebs diagnostiziert wurde, ihr Haus verkauft haben. Ihre wichtigsten Gegenstände sind ihr Laptop, mit dem sie den Kontakt zur Außenwelt erhält und über mehrere Facebook-Profile (zum Beispiel als einstige Schönheitskönigin Islands) mit Männern kommuniziert, und eine Handgranate, die ihr ihr Vater im Zweiten Weltkrieg zu ihrem Schutz gegeben hat. Für Dezember bucht sie für sich selbst einen Termin zur Einäscherung.

Nunmehr ans Bett gefesselt, denkt sie an ihr Leben zurück. Der Leser erfährt, dass sie die Enkelin des ersten Präsidenten Islands ist. Bei dem ersten Treffen ihrer Eltern gezeugt, wurde sie am 09.09.1929 in Ísafjörður geboren. Ihr Vater kümmerte sich die ersten sieben Jahre nicht um sie, und sie wuchs glücklich am Breiðafjörður auf. Dann tauchte er plötzlich wieder auf und holte seine Familie nach Dänemark. Während des Zweiten Weltkrieges war sie in Deutschland, später in Argentinien und Paris. Sie war ihrer Zeit weit voraus und eine Frau von Welt, vor allem in Island, das den Trends der Zeit 16 Jahre hinterherhinkte. Sie hat eine Tochter verloren und drei Söhne von unterschiedlichen Männern. Sie trifft einige bekannte Persönlichkeiten, zum Beispiel die Beatles, und küsst sogar John Lennon.

Das Buch ist inhaltlich und vom Schreibstil her ein typisches Buch von Hallgrímur Helgason. Es ist stellenweise sehr skurril und sehr deutlich geschrieben, manchmal schon fast eklig. Er scheut sich nicht davor, Dinge direkt an- und auszusprechen, und benutzt eine bildhafte Sprache. Als ich mich eingelesen hatte, ließ es sich schnell und flüssig lesen. Obwohl es ein Rückblick auf das (ereignisreiche) Leben einer alten Frau ist und aus deren Sicht geschildert wird wie eine Art Biographie, d. h. relativ wenig wörtliche Rede enthält, musste ich mich niemals durch Abschnitte kämpfen. Ich war immer neugierig, was die alte Dame in ihrem Leben alles erlebt hat und erleiden musste, und muss gestehen, dass ich manchmal sogar vergessen habe, dass es sich um eine frei erfundene Person handelt. Interessant waren für mich als Fan von Island besonders einige Schilderungen über Land und Leute. Leider hat sich Herbjörg allerdings auch viel im Ausland aufgehalten, wobei das Buch wahrscheinlich erst dadurch richtig skurril wird.

Das Buch wechselt zwischen der Schilderung des Ist-Zustandes (Herbjörgs momentaner Gesundheitszustand und ihr Leben in der Garage) und Rückblicken auf ihr Leben, wobei die Zeit des Zweiten Weltkrieges einen großen Teil einnimmt. Es ist in sich nicht rein chronologisch aufgebaut, sondern die Erzählerin schildert zum Beispiel, wie es ihr während des Krieges ergangen ist, und schiebt dort ein, wie sie im Jahr 2002 das Leben ihrer Söhne überwacht. Ich hatte jedoch nie den Eindruck, dass sie völlig chaotisch und ungeordnet Episoden aus ihrem Leben schildert. Außerdem ist bei jedem Kapitel eine Jahreszahl angegeben, so dass ich das Geschehen zeitlich immer einordnen konnte. Nach und nach habe ich ihre Lebensgeschichte erfahren. Das Buch besteht aus Kapiteln, die recht kurz sind. Man kann also jederzeit eine Pause machen – andererseits habe ich aber auch oft gedacht, dass ich gerade noch das nächste Kapitel lesen könnte und dann das nächste…

Der Titel passt gut zum Buch und hat einen direkten Bezug. Er erschließt sich nicht auf den ersten Blick und macht deshalb neugierig. Ich muss sagen, dass das Cover zwar auch gut gewählt ist, ich es aber nicht besonders schön finde. Es erregt sicherlich Aufmerksamkeit und hebt sich von der breiten Masse ab, aber ich weiß nicht, ob ich alleine aufgrund des Covers zu dem Buch gegriffen hätte.

Mein Fazit ist, dass mir der Roman gut gefallen hat. Ich kann es allerdings nicht uneingeschränkt weiterempfehlen, denn ich bin mir sicher, dass einige mit Hallgrímur Helgasons Schreibstil und vor allem seiner Art von Humor nichts anfangen können.