Im Verfall findet Hammond tiefe Einsichten ebenso wie Poesie.

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Dieses Buch ging mir an die Nieren, denn Joe Hammond erzählt von seinem eigenen Sterben. Aber sein Buch ist nicht nur düster, denn wie der Untertitel nahelegt, berichtet er auch ganz viel vom Leben.

Ich kann verstehen, wem das zu heftig ist. Hammond ist dazu auch noch erst kürzlich, wie vorherzusehen, an der Motoneuron-Krankheit gestorben. Vermutlich muss jeder Lesende den richtigen Zeitpunkt für diese Lektüre finden. Hammonds Schilderung ist am stärksten – und am erschütterndsten – wenn wer von seinen Kindern schreibt, im Verlauf des Buches circa 2 und 6. Eltern möchten ihre Kinder nicht so zurücklassen müssen. Gleichzeitig musste ich aber viel an meinen verstorbenen Vater denken, sein Tod ist nun 8 Jahre her, ein schwerer Unfall 26. Das Buch half mir bei der Reflexion, auch bei der Trauer darüber, dass ich mich vor seinem plötzlichen Herzinfarkt nicht verabschieden konnte. Das Lebensbejahende habe ich immer wieder in Hammonds Buch gefunden und einen feinen, teilweise makaberen Humor, den er sich sicherlich nicht nur ein Bisschen erkämpfen musste.

Ich muss gestehen, dass ich für dieses Buch ein anderes beiseite gelegt habe, weil ich etwas Abstand davon brauchte: „Die rechte Mobilmachung“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal und diese das Netz als Radikalisierungsplattform benutzen. Zum Abstand von der einen harten Realität wählte ich eine andere harte Realität: Wir müssen sterben! Aber so ist das Leben, während das andere die Boshaftigkeit des Menschen ist. Wenn wir einen Unterschied machen wollen in dieser Welt, dann müssen wir über beides wohl Bescheid wissen.

Hammond ist schonungslos offen – in Bezug auf seinen körperlichen Verfall und seine Körperfunktionen. Der Zauber des Buches liegt für mich auch daran, dass er alles so klar und deutlich beschreibt, Scham und Ekel aber immer draußen bleiben. Menschliches, allzu menschliches, kam mir in den Sinn:

„Gill wollte mir aufhelfen, aber ich sagte, das wäre erst mal nicht nötig, und schlug vor, während ich auf den Teppich sabberte, sie sollte die Fischstäbchen fertig braten. Tom stieg auf seinem Weg zur Treppe über mich hinweg. Ich konnte hören, wie das Abendessen auf Teller verteilt wurde, und ich wollte bleiben, wo ich war – vielleicht für immer. Ich zog die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. Und nichts an dem Gedanken kam mir irgendwie sonderbar vor.“

Hammond bezieht auch seine Vergangenheit und seine zum Großteil schwierige Kindheit mit in diesem Buch heran. An diesen Passagen fehlte mir stellenweise der Fokus, vielleicht, weil er dort aus einem Restrespekt seinem Vater gegenüber einiges verklausuliert schreibt. Da hätte ich das Buch schon fast zur Seite gelegt. Später fügen sich allerdings auch diese Passagen mit dem Rest zusammen: Er muss von diesen Erlebnissen schildern, um seinen eigenen Weg jenseits einer toxischen Männlichkeit zu schildern. (So kümmerte er sich vor seiner Erkrankung als Hausmann um seine beiden Söhne.)

Dennoch fielen diese Passagen gegenüber dem Rest ab. Weswegen ich das Buch nicht mit voller Sternen-Zahl bewerte. Obwohl sich die Bewertung generell merkwürdig anfühlt, denn immerhin hat hier ein Mensch einen Abschiedsbrief an seine Kinder formuliert.

Im Verfall findet Hammond tiefe Einsichten ebenso wie Poesie. Am Ende des Buches schreibt er auch darüber, wie unterschiedlich sich die Menschen ihm gegenüber seit seiner Diagnose verhalten. Ich denke, mit seinem Buch kann er nun auch Empathie vermitteln, wie Mitmenschen es besser machen können.

Am Ende nehme ich mein Kind in den Arm. Und hoffe, dass ihm dieses Erleben noch lange erspart sein werde.