Mehr als nur eine Liebesgeschichte...

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„Ich wünschte, sie könnte mir davon erzählen. Doch Stille, meine Mutter, dort, auf der Küchenbank, und ich, wir haben diese letzten Stunden nicht in unserem Repertoire.“ (S. 11)

Antonia Weber war eine kluge, mutige Frau, die eigene Wege gehen wollte und ihrer Zeit immer ein wenig voraus war. Selbstbewusst stand sie für ihre Wünsche und Entscheidungen ein und wurde doch ihr Leben lang von einem Schatten aus Erinnerungen und Sehsüchten verfolgt, ihrer großen Liebe Edgar Jansen. Toni und Edgar waren in den 60er Jahren ein glückliches Paar – sie: lebensklug, unkonventionell und voller Ziele, Hoffnungen und Träume, er: ein höflicher, schüchterner Gentleman, geradlinig, aber auch sehr verkopft und bestimmt von den Konventionen seiner Zeit. Sie ergänzten sich gut, sie liebten sich, diskutierten und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Doch dann kam alles anders... 50 Jahre später ist Antonia nach schwerer Krankheit verstorben und hinterlässt ihrer Tochter, der Ich-Erzählerin, eine Wohnung voller Erinnerungsstücke eines selbstbestimmten Lebens und eine Menge unbeantworteter Fragen. Was ist damals passiert, wieso hatte diese junge Liebe keine Chance? Wer war Antonia Weber wirklich, was bewegte sie? Führte sie das Leben, das sie sich gewünscht hatte? Oder waren die Opfer, die sie für ein freies Leben bringen musste, am Ende doch zu groß?

Was auf den ersten Blick wie ein Kitschroman unter vielen anmutet, ist bei genauerem Hinsehen eine Geschichte, die komplexe Themengebiete aufarbeitet und gerade dadurch berührt. Die Liebesgeschichte zwischen Toni und Edgar nimmt viel Raum ein und könnte dem einen oder anderen Leser insgesamt zu unaufgeregt oder bieder erscheinen. Doch meiner Meinung nach trifft die Autorin hier genau den Nerv der damaligen Zeit und gibt dadurch Einblick in eine Lebenswelt, die wir uns heute kaum noch vorstellen können: Eine Welt, in der eine Beziehung zwangsläufig in einer Ehe zu enden hatte und in der eine Frau als „gescheitert“ galt, wenn sie vorgegebene Wege nicht gehen wollte... Beinahe leichtfüßig entwickelt der Roman vor allem im letzten Drittel eine Tiefe, die ich wirklich beeindruckend fand. Der Schwerpunkt verschiebt sich weg von der Liebesgeschichte und hin zu einer Analyse der Mutter-Tochter-Beziehung, in welcher verschiedene Lebensentwürfe über Generationen hinweg thematisiert werden.

„Eine hatte Freiheit gesucht. Ihre Tochter hatte sich nach Beständigkeit gesehnt. Und deren Tochter sehnte sich wieder nach Freiheit.“ (S. 226)

Spannend fand ich auch die immer wiederkehrenden Spiegelungen in der Erzählung. Da wäre zum einen die Ich-Erzählerin, die ihre Beziehung zur Mutter reflektiert und dabei selbst eine Tochter hat, die bald ausziehen und ihren eigenen Weg gehen wird; aber auch die Parallelen im Lebensweg von Antonia Weber und einer berühmten Künstlerin, die sie bewundert hatte... Auch die Themen Alter, Gebrechlichkeit und Krankheit werden angesprochen und behutsam durch die Ich-Erzählerin aufgearbeitet:

„Am Ende des Gesprächs sagte ich ihr, ich würde anfangen, mich vor dem Alter zu fürchten, vor dem Alleinsein [...] dass es mir schwerfiel zu sehen, wie sie an ihre Wohnung gebunden war [...]. ‚Du musst dir keine Sorgen machen‘, hatte sie zu mir gesagt, mit ihrer jungen, zuversichtlichen Stimme. ‚Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben.‘“ (S. 241)

Kristine Bilkau besitzt ein beeindruckendes Erzähltalent. Ihr leichter Erzählstil lebt von den leisen Zwischentönen und ihrer feinen Beobachtungsgabe für Personen- und Situationsbeschreibungen. Die Tochter, die nach dem Tod der Mutter in der Küche Zwiegespräche mit ihr führt, die erste Begegnung zwischen Toni und Edgar in der Straßenbahn oder erste, aufgeregte Besuch bei den jeweils anderen Eltern – man ist den geschilderten Personen auf eine unaufdringliche Art und Weise nahe. Handlungen, Entscheidungen und Gefühle werden nicht bewertet oder verurteilt, sondern lassen dem Leser Raum für eigene Gedanken und Interpretationen.

Fazit

Mich lässt dieser Roman wirklich beeindruckt zurück. Ich hatte mit einer zarten Liebesgeschichte gerechnet, habe aber so viel mehr bekommen. Ich kann diesen Roman jedem ans Herz legen, der die leisen Töne und Gedankenanregungen schätzt. Was macht uns aus und wie trafen/treffen wir unsere Entscheidungen? Führen wir ein freies, selbstbestimmtes Leben oder lassen wir uns von Konventionen unserer Zeit leiten?

Allein für Zitate wie dieses lohnt es sich, diesen Roman zu lesen:

„Das Warten in der Stille des Zimmers kann sie förmlich spüren. Dieses schmerzhafte Warten, es ist wie kurz vor einer Berührung, eine Berührung, die lang ersehnt war und nun endlich, sicher kommen wird. Der Moment ganz kurz, der Moment direkt davor, wenn die Berührung eigentlich schon spürbar, aber noch nicht eingelöst ist. Das, das ist alles, was sie hat, für jetzt.“ (S. 207/208)