Normalerweise ganz glücklich zusammen

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barbara62 Avatar

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Grace und Tippi sind nicht einfach nur eineiige Zwillinge, sie sind von der Hüfte abwärts zusammengewachsen und teilen sich u. a. ein paar Beine, den hinteren Teil des Darms und die Geschlechtsorgane. Doch die Wahrnehmung durch ihre Umgebung ist eine gänzlich andere als ihre Selbstwahrnehmung. Während die Menschen um sie herum sie bemitleiden, verspüren Grace und Tippi nicht den Wunsch, getrennt zu sein („Es ist wirklich nicht so schlimm. So ist es eben immer schon gewesen. Wir kennen es nicht anders. Und ehrlich gesagt, sind wir normalerweise ganz glücklich zusammen.“). Wohl aber möchten sie als zwei verschiedene Individuen wahrgenommen werden, denn trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit sind sie zwei verschiedene Menschen mit recht unterschiedlichen Charakteren, die jedoch im völligen Gleichklang leben (müssen). Ist eine krank, liegt die andere mit im Bett, geht eine zum Therapeuten, setzt die andere solange Kopfhörer auf und hört laut Musik, raucht eine, so muss die andere genauso mit den Folgen leben.

16 Jahre lang haben ihre Eltern die beiden zuhause unterrichten lassen, um ihnen die Konfrontation mit einer neugierigen, sensationslustigen Umwelt zu ersparen („... nicht jeder ist ein Arschloch, meint Tippi. Aber in unserer Gegenwart verwandelt sich jeder in eins.“). Nun sind die finanziellen Reserven aufgebraucht, der Vater arbeitslos und trinkt zu viel und Grace und Tippi müssen eine private Schule besuchen.

Aus dem Leben dieser beiden Sechzehnjährigen, ihrer Eltern, ihrer balletttanzenden, magersüchtigen Schwester und der Großmutter erzählt Grace, die Vernünftigere,Ruhigere der Zwillinge. Sie berichtet unaufgeregt vom Leben zweier ungewöhnlicher Teenager, die einfach nur als „normal“ betrachtet werden wollen. Und schließlich erzählt sie davon, wie sie beide ganz plötzlich vor einer gefährlichen Entscheidung stehen... Immer wieder musste ich beim Lesen an Jodi Picoult denken, die ähnliche Stoffe für ihre Romane wählt, diese dann aber anders aufbereitet, indem sie aus der Sicht mehrerer Betroffener berichtet.

Gäbe es einen Preis für die fantasievollste, passendste Covergestaltung, so würde ich diesen ohne Zweifel an Yvonne Hüttig vergeben, die einen umwerfenden Einband gestaltet hat: auf dem weißen Cover eine pinkfarbene Silhouette eines Mädchenkopfes, auf dem durchsichtigen Umschlag dasselbe spiegelbildlich in Türkis, in der Überlappung ein doppelter Kopf – perfekt!

Warum der Roman, der aus extrem kurzen Kapiteln mit oft nur wenigen Sätzen besteht, wie ein moderner Lyrikband gesetzt wurde, ist mir bis zum Schluss nicht klar geworden. Im Normalsatz würde er sicher nur ein Drittel bis ein Viertel der Seiten umfassen und ist damit auch für weniger geübte Leserinnen der Zielgruppe 12 bis 15 Jahre gut zu bewältigen.

Die junge Engländerin Sarah Crossan hat einen interessanten und berührenden Roman über ein Schicksal geschrieben, über das ich mir bisher wenig Gedanken gemacht habe und dessen viele Konsequenzen mir beim Lesen erst nach und nach bewusst wurden. Es ist kein Sachbuch, keine ethische Abhandlung und kein literarisch herausragendes Werk, aber trotzdem eine lohnende Lektüre - nicht nur für Teenager.