Wagemutiger Start in ein neues Leben

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luckylucy Avatar

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„Elbnächte – Die Lichter über St. Pauli“ ist der spannende Auftakt zu Henrike Engels jüngster Dilogie um zwei starke Frauen, die sich gemeinsam mit einem ehemaligen Polizisten den Herausforderungen in ihrem neuen Leben stellen und daran wachsen.
Louise und Ella könnten unterschiedlicher kaum sein und doch führt das Schicksal sie 1913 im Hamburgerviertel St. Pauli zusammen - die eine Tochter aus gutem Hause und nun von ihrem betrügerischen Ehemann mittellos sitzen gelassen, die andere eine ehemalige Prostituierte aus ärmlichen Verhältnissen, der die Flucht gelungen ist. Auf der Suche nach einer neuen Existenzgrundlage treffen sie auf Paul, der nach einem Anschlag nur noch für die Jagd auf eine Bande gefährlicher Straßenkinder und ihren grausamen Anführer lebt. Als die beiden Frauen einem mutmaßlichen jungen Mörder Unterschlupf bieten, sind sie auf Pauls Unterstützung angewiesen, um die Unschuld des Jungen zu beweisen.
Das ansprechende Cover zeigt eine junge, emanzipiert wirkende Frau, in deren Rücken sich das Elbufer erstreckt. Es passt somit fast perfekt zur Handlung. Allerdings eben nur fast, denn die dargestellte Frau kann meines Erachtens nach weder die elegante, blonde Louise, noch die füllige, farbenfroh gekleidete Ella sein, sondern verkörpert lediglich eine starke Frauengestalt in der damaligen Zeit.
Der Schreibstil von Henrike Engel hat mir außerordentlich gut gefallen, lässt sich wunderbar flüssig lesen und wirkt atmosphärisch sehr dicht. Durch die bildhafte Ausdrucksweise konnte ich mich immer wieder nach St. Pauli im Jahr 1913 versetzen und intensiv mit den Charakteren mitfühlen. Umso schöner, dass die Handlung dem Schreibstil in nichts nachsteht. Schon allein die Schicksale der drei Protagonisten sind wirklich ergreifend, zumal Gedanken und Gefühle deutlich spürbar werden. Doch Henrike Engel belässt es nicht dabei ihre Protagonisten auf dem Weg in ein neues Leben zu begleiten. Stattdessen schafft sie eine extrem gelungene Mischung: eine interessante und emotional ansprechenden historischen Geschichte mit einem packenden Kriminanteil, der mit vielen unerwarteten Wendungen für ein fast durchgängig hohes Spannungsniveau sorgt, das kurz vor Schluss noch einmal einen Höhepunkt erreicht.
Absolutes Highlight des Romans sind in meinen Augen aber zweifelsfrei die Figuren und deren Entwicklung. Obgleich die drei Protagonisten sich stark unterscheiden ist der Zusammenhalt groß – allen voran zwischen Louise und Ella (und natürlich Principessa). Nachdem Paul bei einem Attentat den linken Arm verloren hat, besteht sein einziges Lebensziel in einem Rachefeldzug gegen die Kinderbande und vor allem den Drahtzieher. Abgesehen davon ist der clevere und einst so ambitionierte Ex-Polizist seines Lebens überdrüssig. Doch durch die gemeinschaftliche Aktion mit Ella verändert sich nach und nach Pauls Sichtweise, sodass der ehemals so korrekte Polizist gleich mehrfach die Grenzen der Legalität überschreitet und eine unvorhergesehene Überraschung erlebt. Ella ist trotz ihrer tragischen Vergangenheit voller Herzensgüte. Gemeinsam mit ihrer Hündin Principessa nimmt sie ihr neues Leben optimistisch in Angriff und ist dabei stets hilfsbereit. Allerdings bringt ihre Hilfsbereitschaft sie gelegentlich auch ganz schön in die Bredouille. Louise und Ella ergänzen sich in ihrer Freundschaft und in ihren Talenten sehr passend. Da ihre fehlende Bildung Ella aber oft unangenehm ist, beschließt sie mit viel Ehrgeiz dagegen anzugehen. Louise musste in ihrem behüteten Leben bislang noch nie auf eigenen Beinen stehen und fühlt sich nun ins kalte Wasser geworfen. Ihr kühler Verstand und ihre neu gewonnene Freundin Ella helfen ihr dabei maßgeblich. Louise tut, was immer nötig ist, um sich (und Ella) eine neue Existenzgrundlage zu schaffen, auch wenn es gesetzlich oder moralisch mindestens fragwürdig ist. Mit großer Zielstrebigkeit und wenig Hemmungen lernt Louise schnell eine Situation zu ihren Gunsten zu nutzen.
Wer historische Romane und/oder starke Frauenfiguren mag, sollte sich diesen keinesfalls entgehen lassen. Ergreifende Schicksale, authentische Figurenentwicklung und eine absolut spannende Handlung – was will man mehr? Ich freue mich jedenfalls schon darauf im zweiten Teil zu erfahren, wie es mit den drei Protagonisten weitergeht.