Erschreckend realitätsnah

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linus63 Avatar

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In der britischen Kolonie Gibraltar soll ein islamistischer Waffenkäufer entführt werden. Verantwortlich für die streng geheime Operation ist der britische Minister Quinn, der zusammen mit einer internationalen Sicherheitsfirma agiert. Beobachter vor Ort ist Paul, ein älterer Beamter der englischen Regierung, der vorzeitig abgezogen wird, als die Aktion schief läuft und alles unter den Teppich gekehrt werden soll. Toby Bell, persönlicher Berater des Ministers und ein erfahrender Diplomat, erfährt zufällig von dieser Operation. Seine Nachforschungen bringen Ungereimtheiten ans Tageslicht oder verlaufen im Sand. Erst Jahre später werden ihm neue Informationen zugespielt - von Paul, der unter seinem richtigen Namen Kit Probyn nach der Aktion in Gibraltar zum Ritter geschlagen und ins Altersdasein abgeschoben wurde. Dort trifft er jedoch "zufällig" einen Soldaten der geheimen Mission, und hat seitdem Zweifel an ihrem Erfolg. Wie Toby macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit ….

Die Geschichte entwickelt sich gemächlich. Nachdem John le Carré die Operation auf Gibraltar als Einführung an den Anfang des Buches stellt, läuft das Geschehen zunächst ganz unabhängig hiervon in verschiedenen Handlungssträngen und in unterschiedlichen Zeitebenen ab. Einerseits führt er mit Toby Bell in die Welt und die Mentalität der britischen Politiker, Beamten und Diplomaten ein und zeigt auf, welche Möglichkeiten sich ihnen mit ihrer Macht und Geld bieten, während andererseits Kit Probyn in der Abgeschiedenheit von Nord-Cornwall lebt. Erst mit der anschließenden Wahrheitsfindung geht es richtig zur Sache. Gekonnt und mit einer durchgehend unterschwelligen Spannung setzt le Carré in Szene, wie der Einzelne, der die Wahrheit an Licht bringen möchte, dem System ohnmächtig ausgesetzt ist. Erschreckend realistisch konfrontiert er Kit und Toby mit korrupten Politikern, Drohungen, Bestechung, Gewalt und sogar Mord, die dabei mehrfach und authentisch mit sich und ihrem Gewissen hadern, ob sie diesen Kampf wirklich aufnehmen wollen.

Le Carré schafft dabei eine Atmosphäre, die durch starke und schön gezeichnete Charaktere, ausführliche und anschauliche Schilderungen ihrer Tätigkeiten und unterhaltsame Dialoge fast greifbar ist. Sein Schreibstil, der häufig eine Spur Sarkasmus aufweist und von langen, verschachtelten Sätzen und einigen wortgewaltigen Dialogen geprägt ist, trägt stimmig seinen Teil dazu bei. Wie erwartet zeichnet sich das vorliegende Buch weder durch Action, noch durch Hochspannung, sondern durch eine sehr interessante, gut durchdachte und brisante Handlung aus. Passend zum aktuellen politischen Weltgeschehen um die Whistleblower veröffentlicht John le Carré eine Geschichte, bei der man sich immer wieder fragt, Fiktion oder Realität?

„Empfindliche Wahrheit" ist kein Roman, den man eben mal so weglesen kann. Man sollte sich Zeit dafür nehmen, sich geduldig auf die verschiedenen Erzählstränge einlassen in dem Bewusstsein, dass irgendwann alles schlüssig zusammenfinden wird. Dann kann man die Feinheiten der Geschichte, le Carrés Stil, seine gewählten Worte mit häufig versteckten Anspielungen und einem Hauch Sarkasmus in aller Ruhe auf sich wirken lassen.