Subtil-spannender Spionageroman

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marionhh Avatar

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Ein mittelhoher Beamter des britischen Außenministeriums mit dem Tarnnamen Paul Anderson wird auf seine alten Tage unversehens auf einen geheimen Auslandseinsatz nach Gibraltar geschickt. Dort soll er den Einsatz der britischen Armee und einer amerikanischen Spezialeinheit beobachten und als eine Art „Rotes Telefon“ direkt dem Außenminister Quinn berichten. Offiziell geht es um die Ausschaltung eines islamistischen Waffenhändlers. Die Operation geht jedoch schief, und Diplomat „Paul Anderson“ wird in die Karibik weggelobt, geadelt und dann in allen Ehren und mit allen Pensionsansprüchen in Rente geschickt. Drei Jahre später trifft er völlig überraschend in seinem Dorf in Cornwall seinen alten Kumpanen Jeb wieder, damals Leiter der britischen Einsatztruppe. Jeb ist heruntergekommen und traumatisiert, und er gibt erstaunliche und erschreckende Dinge preis. War die Operation wirklich so unblutig, wie man Paul weisgemacht hat?

Zu der Zeit, bevor der Einsatz startet, ist der junge Toby Bell persönlicher Assistent des Staatsministers Quinn, wird jedoch von diesem nicht wirklich in dessen Geschäfte mit einbezogen und unverständlicherweise bei Gesprächen ausgeschlossen. Toby wird misstrauisch und schneidet heimlich ein Gespräch zwischen Quinn, Anderson und einen gewissen Crispin mit. Der Stick mit der Tonbandaufnahme klemmt jahrelang versteckt hinter dem Hochzeitsfoto seiner Großeltern, bis er eines Tages unverhofft Post von Paul Anderson bekommt. Zu dem Zeitpunkt ist Minister Quinn längst aus dem Amt geputscht worden, alle anderen Beteiligten in der Versenkung verschwunden. Toby und Paul treffen sich, nähern sich vorsichtig aneinander an, tauschen ihre jeweiligen Erkenntnisse aus, und anhand von Tobys Nachforschungen treten immer mehr unangenehme Wahrheiten bezüglich des Einsatzes ans Licht, die Paul bislang entgangen waren – oder vorenthalten wurden. Die beiden packt der Ehrgeiz, die wahren Begebenheiten ans Licht und an die Öffentlichkeit zu bringen. Bis es jedoch dazu kommt, versucht man sie auf verschiedene Arten mundtot zu machen...

Sehr komplexer, kompliziert-verschachtelter Spionagethriller über einen, zu dem man heutzutage Whistleblower sagen würde, einen Enthüller von Wahrheiten aus dem britischen Außenministerium. Erst ab dem zweiten Kapitel erscheint Toby Bell auf der Bildfläche, und anfangs erscheint einem alles noch vergleichsweise harmlos. Der Thriller lebt ganz eindeutig von der sehr subtilen Spannung, die aufzubauen der Autor auf geniale Weise versteht. Keine bluttriefenden Gräueltaten, keine ballernde Action, stattdessen Geheimnisse, die häppchenweise und sehr wohl dosiert an die Öffentlichkeit, beziehungsweise an den Leser, gelangen. Was geschah wirklich bei der Operation „Wildlife“?

Natürlich lebt der Roman auch von den sehr starken Charakteren, allen voran der unbedarfte „Paul“, ein typischer britischer Beamter, in seiner Unerfahrenheit ein völliger Anti-James Bond und an sich völlig ungeeignet für einen Auslandseinsatz. Paul ist dermaßen ehrlich und überzeugt vom System, dass er die Geschichte, die man ihm auftischt, zunächst unbesehen glaubt. Erst Jebs Verschwinden macht ihn misstrauisch, und hauptsächlich auf Druck seiner Gattin und seiner Tochter Emily beginnt er nachzuforschen. Doch auch später glaubt er in seiner grenzenlosen Naivität noch immer, dass er einfach zu seinen alten Kollegen ins Ministerium zu gehen, dort die Unterlagen zu übergeben und die Wahrheit zu sagen braucht, damit Jeb und allen anderen Gerechtigkeit widerfährt. Dem ist leider nicht so.

Toby ist trotz seiner Jugend ein sehr erfahrender Diplomat, und er will etwas verändern und bewirken. Er kann mehrere Dinge gleichzeitig tun, kann Small Talk halten und gleichzeitig die nächsten Schritte planen, kann sich verstellen und weit vorausdenken. Zu Beginn, so hat man den Eindruck, rutscht er mehr aus verletzter Eitelkeit denn aus echtem Misstrauen in die Geschichte. Wieso nimmt er überhaupt das Gespräch auf Tonband auf? Anscheinend weil man ihn ausschließt und er sich ungerecht behandelt fühlt. Er kann zunächst gar nichts damit anfangen. Erst als er merkt, dass man ihm ausweicht, dass keiner darüber reden will, dass die Beteiligten phantomhaft im Dunkeln bleiben, beginnt er neugierig zu werden. Er ist sehr vorsichtig abwägend, während Paul auch gerne einmal impulsiv handelt. Beide haben jedoch einen hohen Gerechtigkeitssinn, und sie fühlen, dass da etwas faul ist.

Diesen Roman liest man nicht so einfach herunter, er ist verschachtelt und wechselt häufig die Erzählzeit und die Zeitebene, auf der das Geschehen gerade spielt. Die Zeitsprünge umspannen mehrere Jahre, in denen vor allem Tobys Werdegang und seine Einsätze beleuchtet werden, aber auch Pauls Leben, seine Gespräche und spontanen Aktionen. Die Wechsel geschehen oft so abrupt, dass man als Leser leicht den Überblick verlieren kann, auf welcher Zeitschiene man sich gerade befindet. Gleichzeitig dringt man so immer tiefer in den Sumpf und in das Geheimnis ein und erfährt so immer mehr der heiklen Wahrheit.

Besonders köstlich sind Pauls Ausbrüche und seine rührenden Versuche, seinerseits etwas zur Wahrheitsfindung beizutragen. Mehr als einmal muss er von Toby – unter Mithilfe von Pauls tatkräftiger Tochter Emily – gerettet und den umsorgenden Händen von Gattin Suzanna übergeben werden. Zeit seines Lebens ein Schreibtischtäter, kann er es nicht verkraften, dass sein einziger Auslandseinsatz solch ein Fiasko war – und er vor allem davon überhaupt nichts mitbekommen hat.

So sehr man mit den Protagonisten mit lebt und sich wünscht, dass es endlich zum Finale kommt, so abrupt kommt das Ende. Das Zusammentragen von Informationen, das damit einhergehende Hinarbeiten auf den Höhepunkt und der immer größer werdende Spannungsaufbau ist eigentlich erst die Vorgeschichte, mit der Veröffentlichung fängt die wahre Geschichte erst an, ändert sich das Leben aller.

Fazit: Ein komplexer, nicht ganz einfacher Spionageroman, der brandaktuell ist und ein Thema behandelt, das tatsächlich gerade in allen Medien ist. Der ehemalige Diplomat und Meister seines Fachs John le Carré schafft es auf sehr subtile Art und Weise, Spannung aufzubauen und dabei ganz auf reißerische Methoden zu verzichten. Stattdessen gibt er Einblicke in eine Welt, die gänzlich jenseits der Vorstellungskraft von uns „normal Sterblichen“ steht, d.h. derjenigen, die keine Ahnung von der Welt der Diplomatie und Geheimdienste haben – was bei den Meisten der Fall sein dürfte. Kleiner Wermutstropfen (für mich) ist das doch sehr offene Ende. Als Fan von „abgeschlossenen“ Geschichten ist das eher unbefriedigend, mir kommt es zu plötzlich und dadurch wirkt der Roman unfertig, wenn auch durchaus zum Storyaufbau passend. Nichtsdestotrotz ein sehr fesselnder Roman, den man kaum aus der Hand legen kann!