Wichtige Thematik mit Schwächen in der Ausführung

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fraedherike Avatar

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[TW: Suizidversuch, Depressionen] Man könnte meinen, das Schicksal habe sie zusammengeführt, denn auf gewisse Weise haben sie beide denselben Plan: all dem ein Ende setzen. Sterben. Die 69-jährige Schlagersängerin Hella hat sich dazu entschlossen, in der Schweiz "menschenwürdig sterben" zu wollen - doch ihre Fahrt wird jäh von dem Suizidversuch Julis unterbrochen. Die 15-jährige stürzt sich von einer Autobahnbrücke und landet - leicht verletzt - vor Hellas Passat. Sie sind beide überfordert von der Gegenwart der jeweils Anderen, verfolgen sie schließlich beide einen geheimen Plan. Aber ihre Gemeinsamkeiten und ihr kleiner Road Trip schweißen sie zusammen - und vielleicht ist der Freitod doch nicht die letzte Möglichkeit?

In ihrem neuen Roman "Ende in Sicht" erzählt Ronja von Rönne lakonisch und gewandt von dem schicksalhaften Road Trip zweier scheinbar komplett unterschiedlicher Frauen, die mehr gemeinsamen haben, als es von außen vermuten lässt. Beide leiden an Depressionen: Die Schülerin Juli leidet unter der unerklärten Abwesenheit ihrer Mutter, findet in der Schule keinen Anschluss und all die grellen Farben, das ohrenbetäubende Rauschen der Stille werden ihr zu viel. Da sind auch die lapidaren Hilfsangebote ihrer Schulpsychologin nur wenig hilfreich. Dem gegenüber steht die ausgebrannte Hella, die als Schlagersängerin in den 80er Jahren große internationale Erfolge feierte, aber nach zahlreichen Skandalen, gescheiterten Auftritten bei Provinzveranstaltungen und verschiedenen Abhängigkeiten einfach nicht mehr kann; sie ist lebensmüde.

Laut der Deutschen Depressionshilfe ist "etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen. Frauen erkranken also zwei- bis dreimal so häufig an einer Depression wie Männer." Doch die Dunkelziffer ist groß. Von unzähligen Stigmata und Vorurteilen betroffen, hat sich die Wahrnehmung und Rezeption von Depressionen in den letzten Jahren im Zuge der zunehmenden Digitalisierung verändert. Von Rönne kritisiert dieses Phänomen eindrucksvoll, lässt ihre junge Protagonistin beinahe altklug statuieren, dass all die vermeintlichen Hilfsangebote die Ernsthaftigkeit einer depressiven Erkrankung lapidar abwerten: Heutzutage gebe es nämlich "Apps, Tabletten und ganz, ganz viel Verständnis" für die "grauen Tage" (S. 95). Hella stellt in der Beziehung die Repräsentantin alter Boomer-Generationen dar, als darüber geschwiegen wurde, die gesellschaftliche Wahrnehmung eine ganz andere war. Für sie kann ein so junges Mädchen, das gerade einen Atemzug lang auf der Welt ist, gar keine so schwer wiegenden Probleme haben. Doch die heutige Realität ist eine andere.

Mit Juli und Hella hat von Rönne zwei herzige, empathische Protagonistinnen erschaffen, deren gemeinsame, wenn auch kurze Zeit voll erinnerungswürdiger Momente war, die sie herausgefordert haben, an denen sie gewachsen sind. Leider jedoch bin ich mit beiden nicht wirklich warm geworden, als schwächte ein Schleier ihre Strahlkraft ab; sie blieben mir unnahbar. Einzelne Handlungen wirkten oft eher abgehackt, zogen flüchtig wieder vorbei, ohne weiter in die Tiefe zu gehen oder größere Auswirkungen auf den Fortgang der Geschichte gehabt zu haben - was ich sehr schade finde, denn mit ein paar Seiten mehr hätte die Handlung mehr Raum gehabt, um ihre Botschaft, all ihr Potential vollends zur Entfaltung bringen zu können. Doch von Rönne schafft es - und das ist die wohl wichtige Errungenschaft dieses Romans -, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie fatal die Auswirkungen von Depressionen bereits im jungen Alter sein können und wie wichtig es ist, sich nicht zu verstecken oder gar zu schämen, sondern Hilfsangebote wahrzunehmen und darüber zu reden. Du bist nicht alleine.