Drastische Übung in Empathie

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alasca Avatar

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Wann verliert man sein Kind? Ist die Zukunft offen und die Vergangenheit festgeschrieben oder umgekehrt?

Das sind die Fragen, die Alex Schulman, Spezialist für dysfunktionale Familien, in seinem neuen Roman verhandelt. Eltern, die ihr Kind lieben und es dennoch für´s Leben beschädigen? Erneut ist Schulmans Thema die transgenerationale Weitergabe von Traumata, dieses fatale Erbe der Gewalt, das von den Eltern auf ihre Kinder übergeht und auch deren ganzes Leben bestimmt.

Oskar, verheiratet mit Harriet und Vater von Yana, reflektiert das durchaus. Aber er ist selbst so beschädigt, dass er sein Verhalten weder ändern noch beherrschen kann. Seine Wutanfälle versetzen Yana in Panik. Irgendwann ist kein Gespräch mehr zwischen ihnen möglich – sie koexistieren in lastendem Schweigen, nachdem Harriet nach einer Reise verschwunden ist. Auch Harriet ist in Angst und Schweigen aufgewachsen. Wir folgen den drei Protagonisten und stürzen in einen Abgrund aus Hilf- und Lieblosigkeit.

Wäre der Roman nicht so schön geschrieben, wäre er wohl inhaltlich nicht auszuhalten. Aber immer wieder gibt es auch Sätze wie diesen: „Sie stehen mitten in einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter steigt, ertrinken sie.“

Die Kapitel werden abwechselnd aus diesen drei Perspektiven erzählt. Am Anfang braucht es ein bisschen, bis sich die Zeiten und Zusammenhänge sortiert haben, denn alle fahren gefühlt gleichzeitig im selben Zug ins titelgebende Malma, aber das täuscht: Sie sind in unterschiedlichen Jahren unterwegs. Die Zeitebenen und Personen geraten einem im Lauf der Lektüre immer wieder durcheinander – der Effekt ist gewollt. Wer erleidet was durch wen? Was ist der Grund wofür? Ein Teufelskreis des Schmerzes. Der Zug nach Malma symbolisiert die Familie, ein Wagen hängt am anderen, sie gehen ineinander über, werden gezogen oder geschoben. Und wenn der Zug die Richtung umkehrt, wie Züge das so tun, ist vorne hinten, Vergangenheit wird Zukunft. Ein schöner Kunstgriff. „Endstation Malma“ ist eine großartige Kombination aus handwerklichem Können, authentischem Background und psychologischer Raffinesse.

Denn Schulman kennt die Extreme, über die er schreibt, aus eigener Erfahrung – das spürt man in jeder Zeile. Die harte Drastik mancher Szenen könnte auf Menschen ohne einen solchen Hintergrund überzogen wirken. Aus meiner Sicht ist hier allerdings gar nichts zu viel. Schulman gelingt es, Befindlichkeiten nachfühlbar zu machen, zu denen „normale“ Menschen gewöhnlich keinen Zugang haben. Hat sich nicht jede/r von uns schon gefragt, warum Herr X oder Frau Y sich so seltsam verhalten? Natürlich hat das Gründe – nur kennen wir sie nicht und gehen ins Urteil. Insofern sind Schulmans Romane Augenöffner und Vermittler in einem.
Zum Ende hin verstärkt sich der Thriller-Charakter des Romans, werden die Kapitel immer kürzer, zieht das Tempo des Zuges in die Vergangenheit an. Der Roman schließt mit einer positiven Szene aus der Vergangenheit, die den Blick auf eine der Figuren noch einmal verändert. Das ist höchst anrührend und verleiht dem Roman zusätzliche Tragik, denn wir wissen mittlerweile, wie dennoch alles kam.

Schulmans Harriet behauptet: „Die Zukunft ist bereits vorherbestimmt und lässt sich nicht beeinflussen, doch was passiert ist, ist veränderlich, es bewegt sich die ganze Zeit.“

Klingt paradox? Schulman führt den schlüssigen Beweis für diese These, und das auf denkbar spannende Weise. Wie schon „Die Überlebenden“ und „Verbrenn all meine Briefe“ ist „Endstation Malma“ eine Übung in Empathie, die die Lektüre unbedingt lohnt.