Der Mensch in Extremis

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alasca Avatar

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In Liz Jensens Roman ist die Klimakatastrophe aufgrund des Treibhauseffektes kein Horrorszenario für eine ferne Zukunft mehr, sondern sie ist eingetreten. Eine unbarmherzige Sonne brennt auf ein England nieder, das schon lange keinen Nebel mehr kennt, das Wetter fällt von einem Extrem ins andere und ist nicht mehr vorhersagbar, der Meeresspiegel hat begonnen zu steigen.

Wie das Wetter, so neigen auch die verängstigten Menschen angesichts der radikalen Veränderungen zum Extrem. Ökofaschisten, Eugeniker, Gaia-Gläubige, Evangelikale: Alle glauben, im Besitz der Heilslehre zu sein, und letztere glauben, die Endzeit sei gekommen, die "Trübsal" habe schon begonnen oder stehe kurz bevor, und die "Entrückung" der Gerechten sei nahe. In diesem ideellen Umfeld ist Bethany groß geworden, das Mädchen, das die Psychotherapeutin Gabrielle Fox behandeln soll, die aufgrund ihrer persönlichen Sitation dazu eigentlich nicht in der Lage ist. Bethany, die ihre Mutter umgebracht hat, verweigert die Erinnerung an ihre Tat, prophezeit Katastrophen, die auch eintreffen, und stürzt Gabrielle zusätzlich zu ihrer persönlichen auch noch in eine professionelle Krise.

Was aber diesen Roman aus der Masse des Genres heraushebt, ist nicht das eindrucksvolle Katastrophenszenario, das mich stellenweise an Schätzings Schwarm erinnert hat. Ja, wir sehen die verdorrte Landschaft Englands vor uns, wir riechen den Gestank Abertausender sterbender Quallen am Strand. Auch das finale Desaster, von Bethany vorausgesagt, ist so eindrücklich beschrieben, dass ich jetzt noch die imaginierten Bilder auf der Netzhaut habe.

Was diesen Roman auszeichnet, ist die sichere Zeichnung der Charaktere. Bethany, manipulativ, manisch, todessüchtig - das Produkt einer evangelikalen Erziehung. Ihr Vater, ein charismatischer Prediger. Gabrielle, gebrochen durch ihre Querschnittslähmung, voller Bitterkeit, aber auch voller verzweifeltem Mut. Der Physiker, den seine eigenen Gespenster jagen, der süchtige Anästhesist mit seinem Rest von Ehre, der Öko-Guru mit Hang zum Kannibalismus, Joy, die Bethanys Manipulationen erliegt. Keine der Personen macht es einem leicht, sich zu identifizieren - wer es also braucht, sich mit den Protagonisten mental solidarisieren zu können, sei gewarnt.

Das Personal in diesem Roman handelt psychologisch schlüssig, jederzeit innerhalb der eigenen Logik, und diese Charaktere treiben eine Handlung mit überraschenden Wendungen voran. Jeder wird von den Ereignissen irgendwann an seine Grenze geführt - interessant ist, wo diese jeweils verläuft. Aber Jensen urteilt nicht, sondern fühlt sich ein - in die Hassliebe der zutiefst traumatisierten Gabrielle zu ihrem Rollstuhl, in Bethanys verstörten Geist, aber auch in die Menschen, die sich allzu gern dem Trost einfacher Sichtweisen hingeben. Und als Leserin ertappte ich mich dabei, dass ich für kurze Zeit ebenfalls viel zu leicht bereit war, zu "glauben".

Der Showdown am Ende der Geschichte ließ mich das Buch einigermaßen erschüttert aus der Hand legen und wirkt immer noch nach.

Ist dieser Roman ein Thriller? Nein, dafür fehlt es ihm stellenweise an Tempo. Ich sehe ihn als eine Studie des Menschen in Extremis. Fünf Sterne gibt es daher nicht, die behalte ich mir für literarische Glanzleistungen vor.

Nichtsdestoweniger: Ganz klare Leseempfehlung!