Eine Geschichte, die erzählt werden muss

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elke seifried Avatar

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„Die Erinnerung daran – an alles, was sie in Holland verloren hatte, an die schrecklichen Fehler, die sie begangen hatte - quälte sie seit über siebzig Jahren.“ Was ist damals geschehen?

Niederlande 1933. Das jüdische Mädchen Eliese und ihr Vater flüchten aus Deutschland in die Niederlande und Josie und ihr Bruder Samuel freunden sich mit ihr an. Die Liebe zu William Kingston führt Eliese einige Jahre später weiter nach England. 1943 Der Nationalsozialismus ergreift nun auch in Holland die Oberhand. Samuel arbeitet inzwischen einer Bank und ist heimlich für den Widerstand tätig. Josie währenddessen hilft jede freie Minute in einem Kinderheim, nichtsahnend, dass Eliese mit ihrem Kind längst wieder zurück, versteckt bei ihrem Vater lebt. Als diese dem Judenrat helfen muss, die Menschen zu registrieren, die auf den Transportlisten der Nazis stehen, kreuzen sich ihre Wege wieder und sie kommen auf die Idee wenigstens einige der jüdischen Kinder vor der ungewissen Zukunft zu retten.

Die Autorin präsentiert ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen, die nach und nach die Zusammenhänge zwischen beiden offenlegen. Im Heute darf man mit Ava, die in der Ich-Perspektive berichtet, für die Kingston Stiftung der Familie Kingston die Bishana Kaffeeplantage samt Kinderheim in Uganda unter die Lupe nehmen, einem lang gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur gehen und schließlich eine Verbindung zwischen der Vergangenheit, ihrer und der Familie des Kaffeeplantagenbesitzers aufdecken. In der Vergangenheit wird abwechselnd aus der Perspektive von Josie und Eliese erzählt.

Es geht mit einem fesselnden Prolog los, was ist dieser Frau widerfahren, was sie so bereut, was ist nie ans Tageslicht gekommen? Spätestens nach dem Zeitsprung nach dem Kennenlernen ins Jahr 1943 hatte mich auch der historische Strang völlig in seinen Fängen. Äußerst bewegend gelingt es der Autorin die damalige Lage, das niemandem mehr vertrauen können, die Angst ums eigene Leben und das der Familie, die Gewissenskonflikte, die man ertragen muss, wenn man versuchen will, seines zu retten, authentisch und fesselnd zu erzählen. Tragische Schicksale von denen berichtet wird, Abtransporte in Viehwaggons oder schreckliche Zustände in den Sammelstellen, lassen einen beim Lesen immer wieder betroffen innehalten. Das Wissen darum, dass diese Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, verstärkt das noch, ich habe die Geschichte mit beiden Frauen gelebt. Der Erzählstrang in der Gegenwart konnte mich aufgrund der Tatsache, dass Ava nicht materialistisch eingestellt ist, was sie mir sofort sympathisch gemacht hat, und wegen der Kälte der Familie, die ihr bei allen außer Marcella entgegen schlägt, auch einholen. Ich hatte sofort Mitleid mit ihr und auch der Ausflug nach Uganda hat mir sehr gut gefallen. Spannend habe ich auch ihre Bemühungen empfunden, das Rätsel um das Familiengeheimnis zu lüften. Allerdings hat sich nach anfänglicher Verwirrung und willkommenen Rätselraten nach und nach bei mir etwas Ernüchterung eingestellt. Viele Namen, teils auch Spitznamen, und zahlreiche Verstrickungen zwischen Familien haben mir das Lesen mit meinem schlechten Namensgedächtnis trotz Notizzettel fast etwas schwer gemacht und mir persönlich wäre die eine oder andere Verbindung weniger, denn am Ende tun sich da wirklich viele Zufälle auf, lieber gewesen. Das wäre für mich nicht nur glaubwürdiger, sondern auch wesentlich angenehmer zu lesen gewesen. >Ihre Majestät hat deine Pläne gestrichen.< >Du solltest sie nicht so nennen,< >Dann eben Ihre Hoheit. Oder Oberherhoheit.< >Vi< >Ihre königliche Poheit.< Gut hat mir aber wieder gefallen, dass Avas Freundin Vi immer wieder einmal für einen Schmunzler gesorgt hat.

Die Geschichte ist in einem religiösen Verlag erschienen. Es verstecken sich daher dezent an einigen Stelle schöne, unaufdringliche Botschaften, die Kraft spenden, helfen können, wie diese. „Es ist schwer. Weiter zu denken als an die Menschen, die wir lieben. Wir müssen um Weisheit beten, und Gott bitten, dass er uns ein größerer Herz schenkt.“ Das hat mir gut gefallen, nicht so nachvollziehen konnte ich aber die in meinen Augen extreme Gesinnung, „Je dunkler das Böse ist, desto heller umso heller sind die Lichtpunkte. […] Wir benötigen dafür weder Geld noch eine ausgeklügelte Infrastruktur, Ava. Alles was wir bauchen, ist die Bereitschaft von Jesu Nachfolgern, dorthin zu gehen, wohin er uns führt, um das Gute an diese Welt weiterzugeben.“. Das war mir fast ein bisschen zu lebensfern, soll aber nur am Rande erwähnt werden, weil es so gut wie kein Gewicht hat.

„Jetzt bin ich nie sicher, ob jemand tatsächlich meine Gesellschaft genießt oder nur eine Art Heiligenschein aus Geldscheinen über meinem Kopf schweben sieht. Es ist schon sonderbar, dass meine Unsicherheit inmitten des Reichtums wächst, während ich mich in meinen früheren Verhältnissen viel wohler gefühlt habe.“ Gelungen gezeichnet, habe ich im Heute Ava empfunden, und die despotische Marcella, die das Herz aber eigentlich schon am rechten Fleck hat, ist wirklich toll dargestellt. Auf der Zeitebene sollte sicher auch noch Landon erwähnt werden, zu dem sich Ava so hingezogen fühlt. Besonders toll finde ich, dass gilt, „Er kann die finanzielle Unterstützung durch die Stiftung unübersehbar gut gebrauchen, aber das hat nicht die Macht, ihn zu verbiegen.“ Eliese und Josie sind beide mit ihren Gedankenkreiseln, mit ihren Gefühlen und Ängsten äußerst authentisch.

„Man hat vergessen. Und es muss auch vergessen werden, denn wie könnte leben, wer nicht vergessen könnte. Aber zuweilen muss einer da sein, der gedenkt.“ Mit ihrem Roman gedenkt die Autorin der schrecklichen Naziverbrechen an der jüdischen Bevölkerung und alleine dafür ist er wert gelesen zu werden. Eine bewegende Geschichte, bei der es bei mir zwar nicht mehr ganz für fünf Sterne reicht, aber sehr gute vier und eine Leseempfehlung ist auf jeden Fall drin.