Aus der Spur

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leukam Avatar

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Der US- amerikanische Schriftsteller Percival Everett hat schon mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht und dafür zahlreiche Preise erhalten. In Deutschland ist er bisher wenig bekannt. Das dürfte sich mit seinem neuen Roman „ Erschütterung“ ändern.
Hauptfigur ist der Ich- Erzähler Zach Wells; er ist von Beruf Paläontologe und arbeitet als Dozent und Wissenschaftler. Der Mittvierziger hat eigentlich alles, um ein glückliches oder wenigstens zufriedenes Leben zu führen: ein gesichertes Einkommen, eine kluge Frau und eine wunderschöne Tochter. Während die Liebe zu seiner Frau mittlerweile erkaltet ist, ist seine 12jährige Tochter Sarah sein Ein und Alles. Mit ihr kann er albern sein, mit ihr liefert er sich regelmäßig Schach- Duelle, bei denen er immer öfter den Kürzeren zieht.
Doch eines Tages wird sein ruhig dahinplätscherndes Leben jäh erschüttert. Es beginnt mit einer leichten Irritation. Sarah übersieht beim Schachspiel eine Figur. So etwas passt garnicht zu ihr. Kurz darauf schneidet sie sich in den Finger. Der Besuch beim Augenarzt bringt keine Ergebnisse. Am Ende einer Ärzte- Odyssee steht eine grauenhafte Diagnose: Sarah leidet am wenig bekannten Batten-Syndrom, einer unheilbaren Nervenkrankheit. Der Alptraum aller Eltern: „ Unsere Tochter war todgeweiht. Meine kleine Sarah würde diesen genetischen Defekt nicht überleben.“ Sie würde dement werden. „ Ich würde sie verlieren, noch ehe sie tot war.“
Wie geht man mit so einem Schicksalsschlag um? Zacks normale Reaktionen als Wissenschaftler versagen hier. Analysieren und nach Lösungen suchen - das war nicht möglich. Es gab keine Lösung.
Zeitgleich hat ein anderes Ereignis Zacks Aufmerksamkeit erregt. In einer bei eBay gekauften Jacke findet sich ein kleiner Zettel mit der Aufschrift „Ayudame“, was übersetzt „ Hilf mir“ bedeutet. Um sich von seinen persönlichen Problemen abzulenken, beginnt Zack nachzuforschen und kommt Verbrechern auf die Spur, die mexikanische Frauen entführten und sie als Arbeitssklaven halten. Er macht sich auf, diese Frauen zu retten. Eine Ausweichhandlung ?!
„ Ich war hier, um jemanden zu retten, irgendwen. Ich brauchte das.“
Was sich hier möglicherweise konstruiert anhört, liest sich keineswegs so, sondern wirkt schlüssig.
Es ist große Kunst, wie Everett sein Thema behandelt. Er macht kein rührseliges Melodram daraus, sondern beschreibt kühl und sachlich und deshalb umso eindringlicher, wie sich das Leben und Denken des Protagonisten angesichts dieser Tragödie verändert. Hat anfangs noch ein leichter und ironischer Erzählton vorgeherrscht, so ändert sich dieser im Verlauf der Geschichte, wird ernster und reflektierter.
Zack Wells ist eine komplexe Figur. Er ist zu sehr Wissenschafter und für das Zwischenmenschliche nicht sensibel genug. Das bekommen oft seine Studenten oder Kolleginnen zu spüren. Da wehrt er jegliche Nähe ab, ist schroff und abweisend und versucht sich aus allem herauszuhalten. Doch seiner Tochter gegenüber ist er zart und voller Gefühl.
Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Ehefrau Meg ändert sich zwangsläufig. Er lässt sie zwar einige Zeit allein, als er sich auf die Suche nach den vermissten Frauen begibt. Doch das führt nicht zum Bruch zwischen den beiden .
Es gelingt dem Autor glaubwürdig, Zacks Verzweiflung und Erschütterung angesichts des Sterbens seiner Tochter darzustellen. Und es ist anrührend, wie er trotzdem versucht, Sinnhaftigkeit in sein Leben zu bringen.
Neben den beiden Handlungssträngen, dem familiären Schicksal und der Krimihandlung mit den verschwundenen Frauen, erzählt Everett auch vom beruflichen Umfeld des Protagonisten. Da reiht sich das Buch in die bekannten Campusromane der amerikanischen Literatur ein. Trotzdem erscheint mir die Geschichte nicht überfrachtet.
Immer wieder streut der Autor kleine und kleinste Schnipsel in seinen Text, die die Handlung unterbrechen; mal sind es Beschreibungen von Knochenfunden, Schachzüge, Gemäldetitel mit Anmerkungen aus dem Louvre, Zeilen aus Mahlers Totenliedern und mehr. Das ist keineswegs störend, der Lesesog bleibt bestehen.
„ Erschütterung“ ist ein literarisch anspruchsvoller Text, der einfühlsam das Leben eines Mannes beschreibt, der mit einem ungeheuren Verlust klarkommen muss, gleichzeitig die Geschichte einer intensiven Vater- Tochterbeziehung. Ein Buch, das auch den Leser erschüttert zurücklässt.