Ein großartiges Buch, wenn man es zulässt...

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mirko Avatar

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Schon viele Bücher aus dem Hanser-Verlag konnten mich in der Vergangenheit begeistern. In den ersten Übersichten zu den Neuerscheinungen 2022 erregte dieses Buch sofort meine Aufmerksamkeit, da sowohl der Titel als auch das Cover vielversprechend waren. Die Chance auf ein Vorab-Exemplar zu bekommen, hat mich deshalb besonders gefreut.
Im Roman geht es um den Paläontologen und Universitätsprofessor Zach Wells. Er selbst erzählt diese Geschichte und fordert den Leser dabei sichtlich heraus. Denn Percival Everett schreibt nicht einfach nur die erschütternden Geschehnisse chronologisch herunter, sondern nimmt den Leser mit auf eine literarische Reise. Er verwendet dabei eine Reihe ungewöhnlicher Techniken, sei es der herausfordernde Beginn oder das denkwürdige Ende des Buchs, aber v.a. auch die fortwährenden kurzen und sich von Kapitel zu Kapitel thematisch unterscheidenden Einschübe, die Everett selbst als Fenster zu den Problemen von Zachs Tochter Sarah beschreibt.
Sarah ist krank und der Leser begleitet die kleine Familie, die noch um Sarahs Mutter Meg ergänzt wird, auf ihrer Reise in eine unaufhaltsame Abwärtsspirale. Von jetzt auf gleich ist nichts mehr wie es war. Es geht um die Beziehungen innerhalb der Familie, um die Akzeptanz von Schicksal und den Umgang mit Ereignissen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Vor allem die intensive Vater-Tochter-Beziehung beschriebt Everett in herzzerreißender Manier. Sie hat mich, ebenso wie der Roman selbst, an „Winklers Traum vom Wasser“ von Anthony Doerr erinnert. Auch dort geht es um eine Vater-Tochter-Beziehung, deren Intensität den schicksalhaften Ereignissen nicht standhält. Auch Doerrs Erzählstil hat mich seinerzeit begeistert, da er die Welt mit anderen Augen zu sehen scheint. Und so tut es auch Everett. Er sieht Dinge, die anderen Menschen verborgen bleiben, und beschreibt diese in einer Art und Weise, welche die Herzen der Leser berührt.
Am besten lässt sich dieser Stil für mich mit einer Fotografie vergleichen, die nicht einfach nur eine Abbildung des Gesehenen ist, sondern dadurch zum Nachdenken anregt, dass sie Dinge im Verborgenen lässt oder in einer Unschärfe darstellt, die dem Betrachter nur den Hauch einer Idee vorgibt. Der Rest bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen. Genau so habe ich es in diesem Roman empfunden, der seine vielen kleinen Geschichten in einem Moment beendet, in dem andere Autoren in Pathos abgleiten würden. Trotzdem oder gerade deshalb weist das Buch eine sehr hohe Dynamik auf und lässt den Leser nicht los.
Es gibt eine zweite Erzählebene, die ebenso ungewöhnlich ist, da sie scheinbar nicht wirklich zur ersten passt. Aber zum einen funktioniert diese für sich allein betrachtet hervorragend und zum Anderen bricht sie den Erzählfluss derart auf, dass einer möglichen Monotonie vorgebeugt wird. So trägt der eine Erzählstrang den anderen und intensiviert ihn letztlich sogar. Es gelingt Everett mit diesen Techniken starke Bilder zu erzeugen, die sich ins Gedächtnis des Lesers einbrennen. Gleichzeitig berührt er mit seiner Sprache und erzeugt dadurch ganz große Gefühle.
Noch eine Randnotiz: Dies ist im Übrigen eines der ganz wenigen Beispiele, bei dem ich den deutschen Titel deutlich besser als den englischen Originaltitel („Telephone“) finde. „Erschütterung“ passt hier so gut, da es all das widerspiegelt, was der Leser im Verlauf der Geschichte miterleben wird.
Fazit: Percival Everett hat einen großartigen Roman geschrieben, der den Leser herausfordert. Ist man bereit sich auf das, was der Autor hier vorlegt, einzulassen, wird man reichlich belohnt. Belohnt mit einer spannenden, aber vor allem herzzerreißenden Geschichte, welche die Hilflosigkeit eines Menschen im Angesicht eines unausweichlichen Schicksals schonungslos offenlegt. Und das ist wirklich groß!