Roman | Wenn das Leben plötzlich ein anderes ist... "Erschütterung" von Percival Everett

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herrfabel Avatar

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Dem Gefühl, was es heißt, das eigene Kind an eine ausbrechende Krankheit zu verlieren, es plötzlich aufgrund eines genetischen Fehlers in den Tod begleiten, und als Elternteil irgendwie weitermachen zu müssen, geht Percival Everett in seinem Roman "Erschütterung" nach. Und das ist es dann auch im wahrsten Sinne des Wortes, eine Erschütterung, die die Protagonisten aufs Tiefste trifft, sich verlieren und erneut zusammenfinden lässt.

"Wie bringt man seiner Tochter bei, dass sie nicht nur jung sterben, sondern sich auf dem Weg zu ihrem Ende im Grunde auflösen wird? Sagt ein Vater das seiner Tochter? Ich sah Meg an. Ich fragte mich, ob sie imstande sein würde, ihrer Tochter, meiner Tochter, unserer Tochter das zu sagen."

Zach Wells, Geologe und Paläobiologe, sowie Professor an der Universität ist nicht gerade der empathischste Mensch der Welt, die Beziehung zu seiner Frau Meg scheint schon so ein bisschen eingeschlafen zu sein und auch im Kontakt zu seinen Mitprofessor*innen und Student*innen ist er nicht immer ganz so einfach, eher ruppig. Zach ist durch und durch Wissenschaftler, begeistert sich viel mehr für Daten, Fossilien und Gesteinsformationen als fürs Zwischenmenschliche. Einzig seine zwölfjährige Tochter Sarah ist so ein Lichtblick in seinem Leben mit der er unglaublich gerne Zeit verbringt, sie in die Natur begleitet oder seine Schachleidenschaft teilt. Doch eines Tages gibt es böse Vorzeichen. Sarah kann nur eingeschränkt sehen, ihr Auge/Gehirn blendet (manchmal) gewisse Bereiche einfach aus. Es folgen einige Besuche beim Optiker und Augenarzt, aber auch die bringen nur wenig Klarheit, sie werden weitergeschickt, bis dann die Diagnose Batten-Syndrom - eine unheilbare genetische Mutation, die zur Demenz führt und dann unweigerlich auch zum Tod - im Raum schwebt. Für Meg und Zach bricht eine Welt zusammen und sie sehen sich mit einer neuen, schlagartig einbrechenden und sich dramatisch verschlimmernden Herausforderung konfrontiert. Wie kann man die Erkrankung der eigenen Tochter, das Vergessen und die mehr und mehr den Alltag beeinflussenden Anfälle ertragen? Zach versucht allem zu entfliehen, mehr Zeit auf dem Campus zu verbringen, die Schuld bei anderen zu suchen und einen Ausgleich zu all dem zu finden. Ein mysteriöser Hilferuf führt ihn in die Wüste New Mexicos, fordert ihn und Komfortzone erneut heraus, während sich seine Frau zuhause um Sarah kümmern muss. Er beraubt sie der Möglichkeit zur Flucht, eine Flucht, die er anderen irgendwie ermöglichen möchte...

"Falls Sie es vergessen haben, ich heiße Zach Wells. Es wäre nicht so seltsam oder furchtbar schlimm, wenn Sie es vergessen hätten. Schließlich wird auch meine liebe Tochter mich, mein Gesicht, meine Stimme vergessen. Das ist unvermeidlich. Das bedeutet, ich kann es nicht verhindern. Es bedeutet, dass niemand es verhindern kann. Gott könnte es vermutlich [...] aber Er hat natürlich Besseres zu tun..."

Dieses Buch hat sehr viel mit mir gemacht. Zuerst hat es mich durch diese emotionale Kälte, die fachlichen Abschnitte über Geologie und Natur sehr zur Weißglut gebracht. Ich konnte ihn nicht verstehen, konnte auch die Darstellung als sexuell anziehenden, bewundernswerten Professor nicht ganz nachvollziehen, aber Zach selbst wahrscheinlich auch überhaupt nicht. Er weiß nicht wirklich wie ihm geschieht, und was Rachel und Co an ihm so anziehend finden. Dennoch ist es wieder dieses typische Bild eines Professors, den die Frauen anschmachten, während er selbst große Krisen zuhause zu meistern hat. Doch im weiteren Verlauf und mit der Diagnose taut dieser Roman und die Erzählung unglaublich auf. Zach erwacht aus der Erstarrung, lässt Emotionen erahnen und man erkennt wie wichtig ihm seine Tochter ist. Man fiebert und leidet als Leser*in bis zu den letzten Zeilen mit dem furchtbaren Schicksal der Familie mit und weiß, dass es nicht besser werden wird. Das allein hätte mir schon voll und ganz als Thema des Buchs gereicht, aber Everett hat für seinen Protagonisten für ein bisschen mehr Action und über seinen Schatten hinaus Wachsendes gesorgt. Ohne nun zu viel vorweg zu nehmen, war mir das an einigen Stellen tatsächlich zu viel, andersrum ermöglicht es eben auch zwischendurch Luft zu holen, mit Zach auf andere Gedanken zu kommen und den nicht immer logischen Irrwegen des Lebens zu folgen. Und irgendwie hat ihn das wahrscheinlich auch wieder näher an seine Familie gebracht. Es ist ein kluger, psychologisch feinsinniger (und wahrscheinlich auch aufgrund dieser unnötigen Action zwischendurch ein eher männlicher) Roman, der mich gerade ab dem zweiten Drittel sehr gepackt hat, mich teilweise gefordert hat und dann auch berührt hat. Und irgendwie fand ich dann selbst diese Sache mit den Fossilien und Steinen schon wieder sehr rührend und niedlich.