Stilistisch und thematisch überfrachtet

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alasca Avatar

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Zach Wells, Professor für Geologe und Paläobiologe, hält sich nicht für sonderlich interessant oder wichtig. Sein Leben, einschließlich seiner Ehe, hat für ihn nur Sinn, weil es seine 12jährige Tochter Sarah gibt. Eine Diagnose nimmt ihm jeden Lebensmut: Er wird Sarah durch eine seltene Krankheit verlieren. Zeitgleich findet er in einem online gekauften Hemd einen Zettel versteckt, auf dem „Ayudame“ (spanisch: hilf mir) steht.

Der Roman besteht aus drei Teilen: Teil 1 beschreibt den Verlauf von Sarahs Erkrankung, vom Verdacht über die Diagnose bis zum Verlauf, sowie die Art, wie Wells und seine Frau, Professorin und Lyrikerin, mit dem Verlust ihrer Tochter umgehen. Teil 2 beschreibt berufliche Konflikte. Teil 3 nimmt den spanischen Hilfeschrei aus Teil 1 wieder auf und verlegt die Handlung an die mexikanische Grenze.

Ich hatte einen Roman auf höchstem inhaltlichem und sprachlichem Niveau erwartet. Die Idee mit dem schriftlichen Hilfeschrei fand ich wirklich originell. Ich hatte erwartet, berührt und ja, erschüttert zu werden. Ich kann nicht sagen, der Roman habe mich überhaupt nicht angesprochen. Aber dennoch war ich enttäuscht.

Zweifellos ist der Autor mit allergrößter Klugheit und Raffinesse vorgegangen. Nur leider hat er des Guten zuviel getan. Der Text kommt mir vor wie ein todsicheres Rezept für den „anspruchsvollen“ Roman. Man behandle ein existenzielles Thema, vielleicht die Ohnmacht angesichts des Todes oder auch die Nutzlosigkeit religiöser Konstrukte oder Nihilismus und wozu er führen kann. Dabei vermeide man Kitsch um jeden Preis und schaffe einen Science Nerd als Protagonisten; solche neigen nicht zu Sentimentalität. Dazu passend wähle man einen umständlichen, pedantisch-präzisen Stil, der die Leserin auf Abstand hält. Ergänzend ein, zwei Erzählmotive mit reichlich Symbolgehalt, wie das Schachspiel oder Träume, die sich mit der Wirklichkeit vermischen. Als Würze zusammenhanglos in den Text gesetzte Schachpositionen im Stil von „Dc2 g5“, ein paar Lateinzitate, Passagen in Französisch und Spanisch, natürlich unübersetzt, um die eigene Bildung zu demonstrieren. Damit das Ganze nicht zu uncool wird, streue man zum Ende hin noch einen Running Gag ein, so alle paar Seiten, nicht so wichtig, ob es passt: „Es war heißer in New Mexiko.“ Oder: „In Texas war es noch heißer.“ Ein Autor, und das ist das Schöne an der reichlichen Verwendung von Stilmitteln, kann sich darauf verlassen, dass die geneigte Leserin den Grund für ihre Verwirrung bei sich suchen wird; wahrscheinlich ist sie einfach nicht klug genug, den brillanten Autor zu verstehen.

Wichtig ist auch, möglichst viele Themen in den Roman zu packen, damit er „vielschichtig“ genannt werden kann. Hier: sterbendes Kind, Ehekonflikte, Campus Story, Suizid, der Grenzzaun zu Mexiko, Femizid, der Drogenkrieg, die amerikanische Polizei und Trumpismus. Wenn dabei Themen an der Oberfläche bleiben müssen, die einen eigenen Roman verdient hätten, okay, Opfer müssen gebracht werden.

Ein Protagonist mit inneren Konflikten hat sich ebenfalls bewährt: Man lässt ihn sich wie ein A….loch aufführen, dies wissen und gehörig darunter leiden. Wenn der Held schwarz ist, lässt man ihn so tun, als sei Rasse kein Thema für ihn, das wirkt schön souverän. Zum Schluss lässt man seinen Antihelden zum selbstlosen Helden werden und sich damit, was kümmert ihn seine Frau, aus schicksalhafter Ohnmacht retten.

Zweifellos ist das Sterben eines Kindes herzerweichend. Auch die sonstigen Themen und Konflikte des Romans haben großes emotionales Potential. Nur war ich so irritiert aufgrund der totalen stilistischen und thematischen Überfrachtung des Romans, dass nur wenig davon bei mir angekommen ist. Ich habe mich ständig gefragt, was der Autor bezwecken will. Insofern ist mir der Enthusiasmus des Feuilletons ein Rätsel – vielleicht freut es sie, den Roman verstanden zu haben? Mir war „Erschütterung“ zu verkopft, ich kann den Roman nicht empfehlen.