Von Erschütterung durch die Lektüre zu sprechen wäre vermessen, aber …

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Unter dem recht abstrakten Titel „Erschütterung“ kann man sich erstmal alles und nichts vorstellen – nur so viel ist klar: Etwas oder jemand wird erschüttert. Hier lässt Pervical Everett seinen Protagonisten, den Paläontologen Zach Wells erschüttert werden, und zwar von der Diagnose, die die Ärzte seiner Tochter stellen: Sie erblindet und absehbar wird die Krankheit tödlich enden. Das sitzt – zumal, wenn man sich wie Zach recht bequem in seinem Leben eingerichtet hatte zwischen Uni und „auf Eis gelegter“ Beziehung, und das, obwohl man als Afroamerikaner nicht unbedingt ein vorhersehbar einfaches Leben hat. In der nervenzehrenden Situation nach der Diagnose, in der das Leben stillsteht bzw. seinen Sinn verliert, macht Zach sich auf den Weg Richtung Mexiko, weil er in einer auf Ebay bestellten Jacke einen Hilferuf findet und sticht damit in ein Wespennest …

Verglichen mit dem, was Everetts Protagonisten widerfährt, wäre es vermessen, zu behaupten, dass die Lektüre des Buches mich erschüttert hätte. Aber in abgemilderter Form trifft das zu, besser vielleicht: sie hat mich beeindruckt. Schon die bloße Idee Everetts, wie jemandem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, der ohnehin schon nicht zwingend auf der Sonnenseite hätte stehen müssen, sich aber hochgekämpft und eingerichtet hatte und daraus resultierend Menschen, die in Not sind, helfen, ist erzählungswürdig. Doch wie er das macht, hat es wirklich in sich: Zunächst baut er das Konstrukt von Zachs Leben auf, haucht seinem Helden Leben ein, indem er ihn als Skeptiker zeichnet und ja, die im Klappentext angesprochene „selbstironische Abgeklärtheit“ trifft es exakt. Und weil Everett Zach erzählen lässt, zieht sich auch ein selbstironischer Ton durch das Buch, umgesetzt auch mal mit ungewöhnlichen Wörtern, abwechselnd hypotaktischer und parataktischer Stil, kurz: sprachlich abwechslungsreich. Beinah wäre man versucht zu sagen, dass Everett seinen Helden bzw. sein Leben seziert, aber bezogen auf das gesamte Buch und den Beruf Zachs wäre es wohl am treffendsten zu sagen, er legt frei, und zwar von Staub- und sonstigen Schichten, die sich auf Zachs Existenz gelegt haben. Die Geschichte handelt von Verlust(ängsten), Liebe (vor allem die zwischen Vater und Tochter), Krankheit, Tod, die existenziellen Themen im Leben eines Menschen eben, aber auch (mehrschichtig) um Rassismus. Dass das nicht unnötig rührselig, sondern berührend geschieht, ist sicher dem Umstand der Selbstironie geschuldet – und wie Everett Zach durch den Hilferuf seiner erschütterten Existenz entkommt und in etwas Sinnhaftes verwandelt. Beim Genre tut man sich schwer, sicher ist es das Psychogramm eines Menschen, der dachte, sein Leben plätschere weiter, wie er es eingerichtet hatte. Doch ein wenig ist es auch ein Krimi, ab dem Punkt als Zach sich auf den Weg macht, um Menschen zu helfen, die er nicht kennt, und um auch zur Erkenntnis zu gelangen, dass es meist Menschen gibt, denen es (vielleicht anders, aber doch) noch schlechter geht. Solche Mischungen können (gehörig) schiefgehen, hier tut es das nicht. „Erschütterung“ ist eins dieser Bücher, die man nicht so schnell vergessen wird, weil dem Autor hier ein Kunststück gelingt: Er bringt den Leser dazu, sich mit existenziellen Fragen zu befassen, ohne zu langweilen; zu unterhalten, ohne sich bzw. die Handlung in Banalitäten zu verlieren; anspruchsvoll zu erzählen, ohne Sprache bloß zum Selbstzweck zu verwenden … unbedingt lesenswert!