Es wird Zeit!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
tintenhain Avatar

Von

In „Es wird Zeit“ geht es um Judith, die bald 50 wird und damit hadert, dass ihre Söhne ausgezogen sind und sie nicht mehr brauchen. Sie sehnt sich zurück nach der Zeit, in der sich alles um die Kinder gedreht hat und ihr Alltag von Schule, Müttern und Kuchen backen für den nächsten Basar erfüllt war. Plötzlich ist sie in der Mitte des Lebens und fällt in ein Loch. Nicht einmal von ihrer Mutter wird sie noch gebraucht, denn diese stirbt, bevor sie zum Pflegefall wird. Die Midlife-Crisis ist da.

Judith fährt in ihren Heimatort, um das Haus der Mutter zu verkaufen und die Urne zu beerdigen. Unverhofft trifft sie auf ihre ehemals beste Freundin Anne. Erinnerungen steigen auf, ein vor langer Zeit verstecktes Tagebuch wird geborgen und eine alte Jugendliebe steht plötzlich vor der Tür. Judiths Leben steht mit einem Mal Kopf und sie muss sich den Entscheidungen aus der Vergangenheit stellen.

Ildikó von Kürthy schreibt humorvoll und dicht am Leben vieler Frauen, deren Lebensinhalt vor allem in Haus, Kindern und Familie steckt. Judith hat ihren Mann eher aus Vernunft als aus Liebe geheiratet. Das Arrangement funktioniert wunderbar, die beiden sind sich gute Partner und den Kindern liebevolle, sorgende Eltern. Ich-Erzählerin Judith geht bejahend mit ihrer Zeit als Vollzeitmutter um und ist dabei herrlich selbstironisch. Dennoch stellt sie in Frage, was hätte aus ihr werden können, wenn sie manche Entscheidungen anders gefällt hätte.

„Ja, Joachim und ich sind 20 Jahre verheiratet“, sage ich und finde, dass sich das anhört, als würde ich eine Haftstrafe absitzen. „Immerhin eine halbe Ewigkeit“, füge ich betont munter hinzu. „Mit drei Kindern, Haus, Hund, Halbtagsjob und Panoramafenster ins Grüne. Hättest du gedacht, dass in mir eine perfekte Hausfrau steckt?“ Klingt das nach Notwehr? Ich fürchte ja. (Seite 27)

Ildikó von Kürthy stellt Judith zwei sehr unterschiedliche Freundinnen zur Seite. Einerseits Martina, die zu ihrem Leben in Hamburg dazugehört und andererseits Anne, die Freundin aus Kinder- und Jugendtagen, mit der so lange Funkstille herrschte. Insbesondere die pragmatische Martina stellt einen interessanten Gegenpart dar, der für spannende Diskussionen und Anregungen sorgt. Aber auch Anne lässt Judith darüber nachdenken, was im Leben wichtig ist und vor allem was Freundschaft wert ist.

Es ist schön und ein wenig traurig zugleich, wenn Judith sich wehmütig den Erinnerungen an die Aufregung an erste Male hingibt und dem Bedauern, so viele Dinge nicht mehr vor sich, sondern schon hinter sich zu haben. Die Probleme sind nicht mehr frauenromantauglich und es geht nicht mehr um das Warten auf den Anruf, sondern um das Warten auf Untersuchungsergebnisse.

Insgesamt empfand ich „Es wird Zeit“ als sehr philosophisch, wobei Humor und Ironie nicht zu kurz kommen. Die Handlung bietet keinen besonders hohen Spannungsbogen, wartet jedoch mit einigen Überraschungen auf, wodurch es dann auch nicht langweilig wird. Der Roman lässt sich wunderbar lesen, was auch daran liegt, dass er in längere Kapitel unterteilt ist, deren Überschriften allerdings manchmal schon etwas vorwegnehmen. Richtig gut gefällt mir die optische Gestaltung mit den farbigen Illustrationen von Peter Pichler.

Irritiert war ich vom Zeitrahmen, in dem die Geschichte spielt, weil Judith unter anderem nach Belgien, in die Niederlande und nach Potsdam reist, ohne zwischendurch mal wieder in ihrem aktuellen Zuhause in Wedel bei Hamburg gewesen zu sein. So wirkte es auf mich, als würde das Ganze sich innerhalb weniger Wochen und mehreren Monaten zugleich abspielen.

„Es wird Zeit“ ist auf jeden Fall ein Roman, den ich empfehlen kann, vor allem wenn man Lust darauf hat, ein wenig über sein bisheriges Leben und das, was da noch kommen mag, nachzudenken. Gleichzeitig bietet der Roman ganz sicher auch gute Unterhaltung.

© Tintenhain