Zynische, traumatisierte Erzählerin

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annajo Avatar

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Mit 7 Jahren musste Libby Day mitansehen, wie ihr Bruder ihre gesamte Familie ermordete: die Mutter und ihre Schwestern. Inzwischen ist Libby 31 und depressiv, labil und traumatisiert. Sie wurde ihr Leben lang von einem entfernten Verwandten zum anderen weitergereicht, hatte seit dem Massaker nie ein richtiges Zuhause. Nun muss sie sich mit ihrem Bankberater treffen, denn der Spendenfonds, in den mitleidvolle Menschen für das damals arme, elternlose Mädchen eingezahlt haben und der sie solange ernährt hat ohne dass sie dafür arbeiten musste, ist nun fast aufgebraucht. Nun soll sich Libby mit 31 Jahren ihren ersten Job suchen. Auf der Suche nach einem solchen Job antwortet Libby auf ein Angebot, das sie per Post erhalten hat. Sie soll in einem Club spezieller Art auftreten. Diese Leute sind "true crime"-Fans und wollen Verbrechensopfer treffen, um sich von ihnen das Verbrechen schildern zu lassen ... oder sie zu überzeugen, der Täter sei unschuldig.

Dann wechselt im nächsten Kapitel die Perspektive und beleuchtet die Entstehungsgeschichte der Tat aus der Sicht von Libbys Mutter. Sie schildert, wie wenig Ben in die Familie passt, wie sehr er sich selbst abgrenzt und zum Schluss deutlich gegen sie auflehnt.

Die Leseprobe aus Flynns Buch macht sehr direkt deutlich, wie krank manche Menschen in ihrer Neugier und ihrem Voyeurismus werden können und was Opfer von schweren Verbrechen ein Leben lang ausgesetzt sind. Interessant ist vor allem auch der Schreibstil der Autorin, die alltägliche Situationen mit Rückblenden versetzt, die nur kurz anhalten und deutlich machen, wie schnell die Erinnerungen die Protagonistin überfluten. Und doch macht das normale Leben nicht halt vor ihr. Trotz ihrer Depression und vielleicht auch Angst muss sie sich damit auseinandersetzen, dass sie irgendwie Geld verdienen muss. Im Rückblick aus der Sicht von Debbys Mutter schildert sie zudem eingängig, wie es in der Familie zuging und wie schwer es Ben, der einzige Mann im Haus in dieser Familie hatte. Etliche Vorzeichen werden deutlich, obwohl sie sicherlich aus damaliger Sicht niemals als solche wahrgenommen wurden - Vorzeichen für eine schreckliche Tat. Eine Tat, die Ben vielleicht gar nicht begangen hat. Doch für diese Annahme ist es im Buch noch zu früh.

Diese Leseprobe hat mich absolut gefesselt und ich habe mich darüber gefreut, dass sie etwas länger war als sonst üblich. Die Autorin konnte mich direkt in die Geschichte hineinziehen und ich war fasziniert davon. Ich möchte mir gern einreden, dass ich vor allem Mitgefühl mit Libby hatte, und nichts von dem widerlichen Voyeurismus der anderen Charaktere dahintersteckt. Aber gleichzeitig will ich unbedingt mehr von Libbys Leben und Trauma wissen. Mich konnte diese Leseprobe absolut überzeugen.