White Trash

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buecherfan.wit Avatar

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Libby Day war sieben Jahre alt, als ihre Mutter Patty und ihre beiden älteren Schwestern Debbie und Michelle ermordet wurden. Libby versteckte sich im Freien und verlor in der kalten Nacht einige Zehen und Finger. Bei ihrer Aussage wurde sie manipuliert und unter Druck gesetzt, so dass sie ihren Bruder Ben schwer belastete. Ihre Aussage und der Vorwurf, satanische Rituale vollzogen zu haben, führten zu Bens Verurteilung .

Inzwischen sind fast 25 Jahre vergangen. Libby war ein schwieriges Kind und eine verhaltensgestörte Jugendliche, die in der Verwandtschaft herumgeschoben wurde. Seit ihrem 18. Lebensjahr hat sie von einem Spendenfonds gelebt, der nun nahezu aufgebraucht ist. Libby ist 31 Jahre alt und hat ihr Leben noch immer nicht im Griff. Als ein Mitglied des Kill Club, einer Geheimgesellschaft, die sich mit Gewaltverbrechen beschäftigt , sich um verurteilte Straftäter kümmert und Nachforschungen anstellt, wenn sie die Verurteilten für unschuldig hält, an Libby herantritt, um sie gegen Bezahlung als

Gast in den Club einzuladen, damit sie Fragen der Mitglieder zur Mordnacht und zu Bens möglicher Unschuld beantworten und Souvenirs der Familie Day zum Verkauf anbieten kann, sieht sie eine Möglichkeit, an Geld zu kommen, ohne einer geregelten Arbeit nachgehen zu müssen. Allerdings hat

sich Libby in all den Jahren geweigert, sich mit dem Verbrechen auseinanderzusetzen oder auch nur Kontakt zu ihrem Bruder aufzunehmen. Unterstützt von Clubmitglied Lyle Wirth, einem 21jährigen

jungen Mann, macht Libby eine Reihe von Leuten ausfindig, die damals mit ihrem Bruder oder ihrer

Familie Verbindung hatten und spricht mit ihrem Bruder im Gefängnis. Sie stößt auf eine Reihe von

Ungereimtheiten, und es gibt mehrere Verdächtige. Libby wird immer tiefer in die Sache hineingezogen. Als sie schließlich der Wahrheit zu nahe kommt, findet sie sich genau da wieder, wo sie 25 Jahre zuvor schon einmal war: auf der Flucht vor einem Killer.

Gillian Flynn ist ein hervorragender Thriller gelungen, der seine Spannung nicht zuletzt aus der raffinierten Struktur bezieht. Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt. In der Erzählgegenwart tritt Libby als Ich-Erzählerin auf und berichtet über sich

selbst und die Ergebnisse ihrer Nachforschungen. In zahlreichen Rückblenden wird überwiegend aus

Pattys und Bens Sicht über 20 Stunden im Leben der Familie Day, nämlich über den 2. Januar 1985 bis

zum Morgen des 3. Januar nach der Ermordung der drei Familienmitglieder berichtet. Auf diese Weise erfährt der Leser Dinge, die Libby nicht herausfinden könnte, weil die Beteiligten entweder tot sind (Patty) oder ihr Wissen nicht mit ihr teilen wollen (Ben). In dem Augenblick, in dem Libby und Lyle den gleichen Wissensstand wie der Leser haben, treffen beide Handlungsstränge aufeinander, und der Mordfall ist gelöst.

Dark Places ist ein Thriller, aber der Roman ist viel mehr als das. Er ist auch eine sozialkritische Studie eines bestimmten Milieus, der armen weißen Unterschicht, von den Amerikanern als White Trash bezeichnet, was sich mit “weißer Abschaum” übersetzen ließe. Das Leben dieser Menschen ist durch ausweglose Armut, Hunger, Gewalt und Demütigungen aller Art gekennzeichnet. Die Day-Kinder leiden Hunger und werden in der Schule und in der Stadt wegen ihrer abgetragenen, schlecht sitzenden Kleidung und der kostenlosen Schulspeisungen verspotttet, die zu einer täglichen Demütigung werden.

Die Mitbürger in der Kleinstadt verhalten sich bemerkenswert unchristlich und unbarmherzig. Gegen ihren Klatsch und Tratsch und die vorschnellen Schuldzuweisungen haben die Days keine Chance.

Es ist tatsächlich so, dass die meisten Charaktere in diesem Roman ausgesprochen unsympathisch sind,

allen voran Libby Day, eine geldgierige, bis ins Erwachsenenleben hinein nicht resozialisierbare Kleptomanin. Dass sie so negativ gezeichnet wird, entspricht allerdings der inneren Logik der Geschichte: ein Kind mit derart traumatischen Erlebnissen kann kein liebes angepasstes Mädchen werden, sondern nur ein schwer gestörter, beschädigter Mensch. In Bezug auf Libby ist Dark Places auch ein Entwicklungsroman, denn sie macht durchaus eine Entwicklung durch, geht gereift und zum Positiven verändert aus der Konfrontation mit der Vergangenheit ihrer Familie hervor. Dadurch dass sie die Wahrheit herausfindet, kann sie etwas zum Abschluss bringen - die Amerikaner nennen das “closure” - und endlich ein normales, selbstbestimmtes Leben beginnen. Nicht nur bei Libby ist der Autorin die

Charakterzeichnung hervorragend gelungen, sondern auch bei den anderen Figuren des Romans: Runner Day, der verantwortungslose Vater, der die Familie ins Unglück stürzt, Ben, seine Freundin Diondra, Libbys Schwestern. Jeder Figur ist absolut stimmig eine je eigene Sprache zugeordnet.

Flynns Prosa ist für einen Thriller außergewöhnlich und verleiht ihm die Qualität eines literarischen Texts. Sie ist scharf, treffend, manchmal derb und brutal in der Wortwahl. Das englische Original zu lesen ist ein Genuss.

Bei der Lektüre fühlte ich mich an Truman Capotes journalistische Aufarbeitung der Morde an einer Farmerfamilie erinnert: Kaltblütig (In Cold Blood), aber auch an den Erstlingsroman der begabten jungen Autorin Melanie Rae Thon, deren Roman Das zweite Gesicht des Mondes (Iona Moon) das düstere Porträt eines ländlichen rückständigen Amerika zeichnet, das gekennzeichnet ist durch Gewalt und beispiellose Verrohung. Dark Places ist Gillian Flynns zweiter Roman. Schon ihr erster Roman Cry Baby (Sharp Objects) begeisterte Kritiker und Leser, wurde für mehrere Preise nominiert und erhielt zwei Auszeichnungen. Gillian Flynn kann sich mit großen Vorbildern messen, und auf ihr nächstes Buch darf man gespannt sein.