Du bleibst eben immer was du bist...

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... vor allem für andere. Einmal Ratte, immer Ratte; welch Ironie für Firmin, hat er doch sein Leben lang versucht, jemand anderer zu sein. In seinen Träumen war er stets einer der Helden aus Buch oder Film, zwei Medien, die er sehr verehrt hat. So verehrt wie die erste und zweite Liebe seines Lebens.
Nun, Norman hat versucht ihn umzubringen und Jerry starb, ehe Firmin sich entscheiden konnte, ob auch er nur ein Trugbild, ein Ideal, das es so nie gegeben hat, war.

Firmin wird als eines von dreizehn Kindern geboren. Flo, die er Mam nennt, ist stets betrunken und kennt an sich nur zwei Bedürfnisse, die es zu stillen gilt. Das gibt sie an zwölf ihrer Kinder weiter, doch Firmin ist zu klein, um sich durchzusetzen und sucht sich aus Verzweiflung andere Wege. Gewollt kann man sagen, denn dass er diese Bedürfnisse teilt, merkt er zu seinem Bedauern schnell - und bricht aus seiner Vorbestimmung aus. Wobei es hier schon schwierig wird, wenn man sich (auch im Hinblick auf den Rest des Buches) überlegt, wer je vorherbestimmt hat, dass eine RATTE so ist und nicht anders. Jeder (Mensch?) weiß doch, dass sie schmutzig sind, infizieren (klar, dass er einen Witz daraus macht!), hässlich und dumm. (Was vergessen? Bestimmt...)
Er knabbert die Bücher an, die sich in seiner, bis dahin kleinen Welt, befinden. Sie haben alle einen eigenen Geschmack: süß, bitter, sauer, bittersüß, ranzig, salzig, scharf. (Geht es uns Lesern nicht auch oft so, dass wir Bücher als schmackhaft empfinden? Oder sie uns zu schwer im Magen liegen?)
Schließlich bemerkt er, dass er lesen kann und was in diesen Büchern steckt, daraus macht er im Laufe seines Lebens so etwas wie eine Passion.
Er weiß, rein theoretisch steht ihm die Welt offen, aber praktisch kommt er nie aus der Buchhandlung und ihren weiteren Etagen hinaus. Er lebt in der Welt und er versteht sie weiß Gott besser, als ein Vielgereister, trotzdem bleibt sie ihm stets Geheimnis, das es zu ergründen gilt.
Die ersten Menschen, auf die er trifft, sind nicht mehr als Füße, die ihn zertreten können und von denen er sich fernhält. Er sieht sie von unten und mag sie definitv nicht aus dieser Perspektive. Dennoch schleicht er sich in ihre Welt, nicht nur zur Futteraufnahme. Im Rialto, dem Kino des Scollay Squares, sieht er alle aktuellen Filme und ganz besonders gern die Spätvorstellung mit "seinen Hübschen".
Der erste Mensch, den er von oben sieht, wird sein Ideal. Norman, den er selbst als Firmins erste große Liebe bezeichnet. Der Besitzer des Buchladens weiß nichts von Firmin und bei all seinen Tagträumen (zusammen arbeiten und philosophieren) scheint er doch zu wissen, dass er sich von ihm fernhalten muss.
Sein (vorgeschobener) Grund ist sein Aussehen, er weiß, dass er hässlich anzusehen ist. Über diesen Makel kommt er nicht hinweg und bleibt einzig uns allein aus diesem Grund wo er ist.
Als Norman ihn eines Tages - der Verfall hat längst begonnen - zufällig entdeckt, weiß Firmin nicht, was er tun soll. Dankbar nimmt er die kleine Aufmerksamkeit an, die er vorfindet, im Glauben, ihm werde etwas Gutes getan. Doch schon bald begreift er, dass Rattengift nichts Gutes ist.
Es ist wie ein Spiegel, eine glatte Oberfläche, hinter die man sehen und hinter der man sogar leben kann, wie Alice im Wunderland. Und diese glatte Oberfläche zerschellt in tausend Scherben, die Wirklichkeit holt uns schneller ein, als uns lieb sein kann. Firmin hat sich da etwas erschaffen, das es so nie gegeben hat. Ein Traum in einem Traum, ein Held, der keiner ist. Eine Liebe, die es nie gab.
Er kommt zu dem Schluß, dass er genauer hätte hinsehen müssen. Was ihn allerdings nicht davon abhält, weiter zu träumen. Nur Ideale, die hat er nicht mehr.
Vielleicht, so glaubt er, lag es nur daran, dass er sich nicht verständlich machen kann. Er sucht nach Möglichkeiten, aber Schreibmaschinen sind zu groß und schwer und die Gebärdensprache für Finger gemacht, die er nicht besitzt. Das einzige, was er sagen kann ist: Auf Wiedersehen Reißverschluß. (Wie ich diese Wortgruppe liebe!) Das versteht natürlich auch niemand. Die RATTE ist viel zu erschreckend, als dass man darauf achten könnte, ob sie nicht etwas sagt.
Jerry beschützt Firmin und nimmt ihn - verletzt - mit. Auch Jerry hat etwas mit Büchern zu tun, er schreibt nämlich welche. Ich glaube, hier sehen wir Sam Savage himself.
Jerry hat seine Phasen, die ihm schlussendlich zum Verhängnis werden. War es ein Unfall? Oder doch nicht? Ich bin mir da nicht sicher.
Firmin weiß nicht, ob er hier einen im Geist verwandten Genossen gefunden hat oder ob er nur als eine Art Spielzeug gesehen wird. Aber hungern wir nicht alle nach ein bisschen Aufmerksamkeit? Und ihn und Jerry verbindet eine ganze Menge, es ist tragisch, dass sie getrennt werden, just als die Entscheidung naht. Selbst ein Mensch kann unter Menschen leben und ihnen doch so fern sein, wie eine Ratte. Es ist, als würden alle Leute auf einer Frequenz laufen und man selbst auf einer völlig anderen. Man weiß es und man kann damit leben, nur eben alle anderen nicht, die unbedingt wollen, dass man ins gleiche Schallgebiet reicht. Egal, ob man will oder nicht. Banal, ist das einzige, was mir zur Welt von Jerrys Eltern einfallen will. Und: Kein Wunder, dass er es anders wollte. Bewundernswert, dass er das durchgehalten hat.
Der Scollay Square verfällt immer mehr, Ratten sterben zu tausenden (das steht in der Zeitung, Firmin bekommt davon nichts mit oder berichtet wie am Rande davon, als gehe ihn das nichts an) und Menschen schließen ihre Geschäfte und ziehen fort. Auch Norman muss sich der Stadt beugen und verfällt auf eine Idee, die ihn sogar in die Nachrichten bringt. Ein letzter verzweifelter Versuch. Nicht, um alles aufzuhalten, dass dies nicht mehr möglich ist, ist ihm und allen anderen klar. Aber ein letztes Mal gehört werden, dass ist ihm wichtig.
Als die Bulldozer anrücken und Firmins kleine Welt in Schutt und Asche legen, kehrt er an den Ort seiner Geburt zurück. In dem Nest, das er mit seinen Geschwistern geteilt hat, findet er einen Pfropfen Papier und faltet ihn auseinander. Ein Mann schrieb: "Doch ich verleere sie die hier und alles verlor ich. Einsamm in Lassenheit mein. Für all ihre Fehler. Ich entfleuße. O bittres Ende! Sie werden's nie sehen. Noch wissen. Noch mich vermissen. Und's ist trübe und trübe und ist bejahrt und trübe es ist bejahrt und benommen."
Er starrt die Zeilen an und tut dann das einzig richtige: Er isst sie auf.
Fazit: Ein super schönes Buch!
Danke und Auf Wiedersehen Reißverschluss.
www.verlorene-werke.de