Firmin, die bibliophile Ratte

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buecherfan.wit Avatar

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Im Keller einer Buchhandlung am Scollay Square in Boston wird in den 60er Jahren Firmin als letzter aus einem Wurf von 13 geboren. Er ist kleiner und schwächer als seine Geschwister, und sie lassen in nicht an eine der 12 Zitzen seiner Mutter. Um seinen ärgsten Hunger zu stillen, kaut er Papier. Später entdeckt er, dass er lesen kann. Von da an wird die gesamte Weltliteratur zu seiner Nahrung im übertragenen Sinne, und er frisst nur noch die unbedruckten Ränder von Büchern. Angeleitet von seiner Mutter erschließt er sich auch andere Nahrungsquellen auf den Straßen des heruntergekommenen Viertels und in seinem Lieblingskino, dem Rialto, wo er ganze Abende und Nächte lang Filme sieht. Firmin ist ungeheuer belesen und gebildet, und sein Konsum an Literatur und Philosophie ist beeindruckend: einen Roman von 400 Seiten schafft er in einer einzigen Stunde, das Gesamtwerk von Spinoza in einem Tag.

Firmin sucht die Nähe zu den Menschen, obwohl er weiß, dass sie in ihm nur Ungeziefer sehen und bei seinem Anblick nur einen Gedanken haben: ihn zu vernichten. Sein Name kann hier als versteckte Anspielung verstanden werden. “Firmin” hat bis auf den Konsonanten im Anlaut die gleiche Aussprache wie “vermin”, was nichts anderes heißt als “Ungeziefer“, “Schädling” oder - auf Menschen bezogen - “Pack”. Firmin wünscht sich nichts sehnlicher, als sich den Menschen mitteilen zu können. Aber leider kann er aus anatomischen Gründen weder sprechen noch singen, und in der Gebärdensprache gelingt ihm einzig der Satz “Auf Wiedersehen, Reißverschluss”,  mit dem sich schlecht Konversation machen lässt. Er hat den Kopf voller Ideen und Wörter, möchte selbst zu gern Schriftsteller werden, aber auch die Bedienung einer Schreibmaschine ist ihm natürlich versagt.

Mit Buchhändler Norman, seiner ersten Liebe, erlebt er eine herbe Enttäuschung, als er begreift, dass dieser ihn mit Rattengift töten wollte. Seine zweite Liebe wird der Schriftsteller Jerry Magoon, der ihn rettet, als Menschen ihn im Park erschlagen wollen, weil sie nicht verstehen, dass er nicht unter Tollwut leidet, sondern für sie tanzt. Jerry nimmt ihn mit in seine ärmliche Bleibe über dem Buchladen und lebt sechs Monate harmonisch mit ihm zusammen, obwohl auch er nicht begreift, dass sein Mitbewohner tatsächlich liest und nicht nur so tut als ob. Dann geht auch diese glückliche Zeit abrupt zu Ende. Schon vorher hat der Abriss des Viertels begonnen. Existenzen werden zerstört, Wohnraum wird vernichtet. Dieser brutalen Sanierungsmaßnahme fällt auch Normans Buchladen zum Opfer. Norman verramscht und verschenkt seine Bücher, Firmin verliert seine einzige Zuflucht und resigniert.

Sam Savages  außergewöhnlicher Roman “Firmin - ein Rattenleben”  setzt eine gewisse Textsensibilität voraus, und es schadet auch nicht, wenn der Leser mit den bedeutenden Werken der Weltliteratur vertraut ist. Das Buch ist nicht spannend wie ein Thriller. Das muss es auch gar nicht sein, aber deshalb ist es noch lange nicht langweilig. Es ist ein melancholischer, teilweise trauriger Roman über die Liebe zu Büchern, die in unserem Leben eine ungeheure Bereicherung darstellen und eine Quelle des größten Glücks sein können. Es ist aber auch eine Geschichte über unmögliche Kommunikation, über Ausgrenzung und Einsamkeit, die in Resignation und Tod endet. Firmins Schicksal erlaubt weniger einen Blick auf die Welt der Tiere als vielmehr auf die der Menschen, die ihr kulturelles Erbe nicht achten und Außenseiter nicht respektieren.