Ein Buch das ein Jahrhundert und ein Kontinent umspannt

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kleine hexe Avatar

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Karin Kalisa hat uns hier ein richtiges Sprachkunstwerk und eine interessante Geschichte in einer wunderschönen Rahmenhandlung präsentiert. Mia Sund hat Textilarchäologie studiert, arbeitet als Kuratorin in einem Museum in Greifswald. Als ihr ein außergewöhnlicher Teppich auf den Tisch gelegt wird, ist sie sofort fasziniert. Einerseits ist das ein Fischerteppich von der Ostsee, andererseits umfasst dieser Teppich so viele auffallende Abweichungen von einem traditionellen Fischerteppich, dass Mia Sund der Sache auf den Grund gehen will. Dies ist ein echter Teppich, keine Fälschung. Aber auch einzigartig, weil er sich nicht eindeutig zuordnen lässt. Mia beginnt nachzuforschen, nach den Ursprüngen des Teppichs. Zuerst in Greifswald und Umgebung, dann in Zagreb, woher der Teppich nach Greifswald gesendet wurde. Und in Zagreb beginnt die Entstehungsgeschichte dieses Teppichs:
Nina Silke Strad oder Silkestrad ist eine ungewöhnliche junge Frau mit einer ungewöhnlichen Herkunft. In ihrem Leben hat sie schon viele Stationen durchlaufen, bis sie in den zwanziger Jahren von Zagreb aus an der Ostsee landet und da den Fischern, denen ein Fangverbot auferlegt wurde, das Teppichknüpfen beibringt. Sie verliebt sich in Carl, sie heiraten, sie knüpft Teppiche und erzählt den anderen Knüpferinnen Geschichten. Das Leben könnte so schön sein, wenn es nicht 1933 in Deutschland wäre. Carl und Mia müssen fliehen, nach Schweden, wo sie nach dem Krieg eine Schule gründen, zum Teppichweben und -knüpfen.
Und hier knüpft wieder die äußere Rahmenhandlung an: Mia und Milan, der Teppichrestaurator aus Zagreb werden ein Paar, sie gründen in Triest ein „Ufficio verifica tappeti“ und verleihen Güte- und Qualitätssiegel für Teppiche, die handgeknüpft sind, nicht aus Kinderarbeit stammen und wenn nachweisbar ist, „dass Arbeitsbedingungen, Umweltbedingungen und Transportbedingungen eingehalten werden“ (S. 241). Mia muss nun nicht mehr Angst vor ihrem gewalttätigen Vater haben, sie kann endlich frei leben und lieben.
Die wunderschöne Architektur des Romans nimmt den Leser gefangen. Ohne der Rahmenhandlung könnte sich die Geschichte um Nina und Carl nicht entfalten, ohne der inneren Geschichte wäre die äußere Handlung unverständlich oder schlimmer noch: banal. Die zwei Erzählstränge berühren sich nur punktuell, bleiben eigentlich zu jeder Zeit getrennt. Und trotzdem sind sie eng miteinander verwoben.
Der Satzbau ist einzigartig. Der Stil - hochanspruchsvoll - ist aber nicht ganz leicht zugänglich. Kurze Sätze, doch nicht in Hemingwayscher Manier. Kalisis Sätze sind scheinbar nur kurz. Eigentlich setzen sie sich fort, auch nach dem Punkt, dem Komma oder nach dem Gedankenstrich: „In einem Taubenschlag von Korrespondenz sitzt sie hier – und doch spricht sie nicht mit dem, mit dem sie jetzt sprechen müsste. Sie sitzt und bleibt sitzen. Denn ginge sie, ginge sie zu ihm – ginge sie immer nur in ein ‚Bis morgen‘. Ein Aufschub, kein Aufbruch. Wieder würde alles gleich bleiben, wo sie selbst jetzt nicht mehr dieselbe bleiben kann. All diese Fäden in ihrer Hand. Die gibt sie nicht wieder her.“ (S. 145) Es sind solche Passagen, voller Lyrik und einem tiefen Sinn, der sich eigentlich erst hinterher offenbart, die den Zauber des eigenartigen Stils von Kalisi verweben. Betrachten wir einen Dialog zwischen Nina und Carl näher:
„Dieses Haus war meine Heimat. Jetzt ist sie leer“, sagte Carl.
„Das Haus ist leer, nicht deine Heimat“, antwortete Nina.
„Aber meine Heimat hat kein Zuhause mehr.“
„Passt denn deine Heimat in vier Wände?“
„Ich bin wohl mehr Fischers Frau als du, Nina“, meinte Carl lächelnd.
„Bin ich das denn, Fischers Frau?“
„Das wollte ich dich gerade fragen. Ob du das sein willst.“
In sieben Zeilen wird so viel und Intensives reingepackt: der Begriff Haus und Heimat, was sie bedeuten, der Titel des Romans und gleichzeitig die Anspielung auf das alte Grimmsche Märchen vom Fischer und seiner Frau.
Das Buch ist berührend und hält einen in seinen Seiten fest, auch nach der Lektüre der letzten Zeilen von Ilse Aichinger.
Die Umschlagsgestaltung fand ich sehr gelungen. Die Umrisse zweier jungen Frauen die in gegensätzliche Richtungen blicken und beide das Meer in sich tragen. Die Europa-Karte mit den vielen Stationen die im Buch eine Rolle spielen, in den inneren Seiten des Buchdeckels erleichtern das Lesen und Zu Recht Finden in der weitläufigen europäischen Geographie und Geschichte unseres Kontinents.