Kaum zu entrinnen: Häusliche Gewalt

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philipp.elph Avatar

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Häusliche Gewalt im kriminellen Umfeld ist das Thema, über das Viveca Sten in ihrem neuesten Kriminalroman erzählt.

Es ist Mina, die in ein Frauenhaus in den Schären vor Stockholm auf Anraten von Nora Linde vor ihrem Ehemann Andreis flüchtet. Mina leidet unter der häuslichen Gewalt des als Kind aus Bosnien geflüchteten Drogenbosses, den Nora wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung anklagen und hinter Gitter bringen will. Als Chefanklägerin der Behörde für Wirtschaftskriminalität, tut sie sich schwer, eine Anklage wegen dieser Delikte und anderer Kapitalverbrechen zu erstellen, damit Andreis für längere Zeit seine Geschäfte nicht mehr pflegen kann, doch der ist clever, wird zudem von einer erfolgreichen Strafverteidigerin vertreten.

Da passiert es – das muss man leider so sehen – gerade zur richtigen Zeit, dass der Kriminelle seine Frau krankenhausreif, fast zu Tode geprügelt hat. Gute Chancen Andreis langfristig hinter Gitter zu bringen bestehen nur, wenn Mina gegen ihren Gatten aussagt, doch dafür – und darin unterscheiden sich Fiktion und Realität nicht – stehen die Chancen schlecht.

Nora Linde hat in diesem 9. Kriminalroman, der auch dieses mal den Untertitel „Ein Fall für Thomas Andreasson“ trägt, eine gewichtige Rolle. Vieles hängt von ihrem Geschick ab, dass Mina kooperiert. Gegenspieler Andreis versucht, mit allen, ihm als Kriminellen zur Verfügung stehenden Mittel das zu verhindern. Unterstützt wird er dabei von seiner ebenfalls skrupellosen Verteidigerin.

Somit stellt Viveca Sten mit „Flucht in die Schären“ ein von Brutalität geprägtes Szenario dar, weit entrückt von der einstigen „Cozy-Sandhamn-Atmosphäre“ der ersten Bände dieser Reihe. Dabei spielt Thomas Andreasson nur noch eine untergeordnete Rolle, obwohl der 9.Band dieser Krimireihe wie üblich untertitelt ist mit „Ein Fall für Thomas Andreasson“. Die gescheiterte Ehe von Thomas mit Pernilla und die Konsequenzen beim Umgang mit dem gemeinsamen Sorgerecht für ihre Tochter prägen hier das Bild von Thomas, der zudem frustriert ist von den Sparmaßnahmen im Polizeiapparat. Auch Nora Lindes gescheiterte Ehe wird ab und an thematisiert.

Im Mittelpunkt aber steht der Wille Andreis‘, mit allen Mitteln seine Frau Mina und den gemeinsamen kleinen Sohn wieder zurückzuholen sowie die Angst Minas vor ihrem prügelnden, tretenden Ehemann und ihre scheinbar nicht enden wollende Loyalität zu diesem Brutalo. Ein Brutalo, der im Bosnienkrieg als Kind traumatisiert wurde, was sein Verhalten gegenüber seiner Frau in keiner Weise rechtfertigt. Diese Bosniengeschichte wird stückweise in die Handlung per kurzen Kapiteln eingebunden.

In den über 130 Kapiteln der eigentlichen Handlung ist der Verlauf nahezu vorhersehbar und birgt wenig Überraschungen. Andreis dreht an der Gewaltschraube. Mina weiß nicht, was für sie und ihren kleinen Sohn die beste Überlebensstrategie ist, wird geplagt von Zweifeln, hat wenig Hoffnung auf einen guten Ausgang. Nora arbeitet unterstützt von der Polizistin Leila verbissen daran, für Mina und deren Sohn eine lebenswerte Perspektive ohne Andreis zu entwickeln. Und weil man als Leser den Ablauf der Geschehnisse erahnt, hangelt man sich von einem Cliffhänger am Ende eines Kapitels zum nächsten in der Gewissheit, dass die Geschichte letztlich – oder zumindest zunächst – gut ausgeht. Das können wir von Viveca Sten und dank ihrer Protagonisten Nora Linde und Thomas Andreasson erwarten.

Viveca Sten stellt hier häusliche Gewalt in einer extrem brutalen Situation dar, die in diesem Fall Mord nicht ausschließt. Beziehungstaten, die dermaßen eskalieren, so lesen wir es irgendwo im Laufe der Handlung, enden in Schweden jährlich 20-4o Mal tödlich (in Deutschland – war kürzlich in der Zeitung zu lesen – sind es weit über 100 pro Jahr). Viele der zigtausend Fälle häuslicher Gewalt, die jedes Jahr in unserem Land passieren, sind für die Betroffenen sicher nicht minder dramatisch und so schließe ich mich Viveca Sten an, die am Ende des Buches in einem Nachwort schreibt: „Unterstützung für betroffene Frauen bieten zahlreiche Organisationen an . Schnelle Hilfe finden Sie im Internet.“

Ein Buch, das das Thema häusliche Gewalt und das Scheitern großer Liebe ausführlich behandelt, als Kriminalroman zu geradlinig am Handlungsstrang ohne Abschweifen auf falsche Fährten und andere Spannungselemente entlang erzählt, ohne die Finessen, die ich von einem spannenden Kriminalroman erwarte.