Lebenslinien
2008 erschien Katharina Hagenas äußerst erfolgreiches Debut „ Der Geschmack von Apfelkernen“. Seitdem hat sie zwei weitere Romane veröffentlicht , außerdem u.a. ein Buch über das Singen, eine Passion von ihr.
Nun also ihr vierter Roman mit dem mehrdeutigen Titel „ Flusslinien“: Und am Fluss leben auch ihre drei Protagonisten.
Margrit ist 102 Jahre alt und lebt seit zehn Jahren in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Täglich lässt sie sich von dem vierundzwanzigjährigen Arthur zum Römischen Garten fahren, wo sie ihren Gedanken und Erinnerungen nachhängen kann. Zu Besuch kommt regelmäßig ihre Enkelin Luzie.
Der Einstieg in den Roman fällt leicht und die Figuren bekommen schnell Konturen. Vor allem Margrit hat es mir angetan. Mag auch ihr Körper alt geworden sein, ihr Geist ist noch sehr wach. Sie nimmt regen Anteil an ihrer Umgebung und ist offen für Neues. Es ist ein bewegtes Leben, auf das sie zurückblicken kann, mit einer Kindheit ohne Vater, dem frühen Tod der Mutter, die im Bombenhagel ums Leben kam, einem Ehemann und einem Geliebten. Mutter wurde sie erst spät. Sohn Frieder lebt mittlerweile mit seiner zweiten Frau und den gemeinsamen Kindern in Australien. Erfüllung fand Margrit in ihrem Beruf als Unterrichtende in Stimmbildung und Atemtherapie.
Mit dem Römischen Garten verbindet sie die Erinnerung an ihre Mutter. Wurde dieser Garten doch von Else Hoffa in den 1920er Jahren angelegt. Else Hoffa war damals die Obergärtnerin der jüdischen Familie Warburg und zeitweise die Geliebte ihrer Mutter.
Hier verbindet die Autorin ihre fiktive Geschichte mit einer historisch verbürgten Figur. Else Hoffa gab es wirklich und ihre Biographie wird in den Roman eingeflochten.
Zwischen den drei Hauptfiguren liegen Jahrzehnte. Während die eine auf viel Vergangenheit zurückblicken kann und nur noch wenig Zukunft vor sich hat, liegt das Leben noch vor den anderen beiden. Trotzdem tragen auch sie schon schwer an Vergangenem. Welche Traumata sie quälen, welche Verluste sie erlitten haben, erfährt der Lesende erst nach und nach.
Luzie hat kurz vor dem Abitur die Schule abgebrochen und lebt nun ganz allein in einem DLRG- Häuschen unten an der Elbe. Der Grund dafür liegt in einem Vorfall während ihres Auslandaufenthalts in Australien. Ihre Verletztheit und ihr dadurch bedingtes sprödes Verhalten beschreibt die Autorin mit sehr viel Empathie. Verständnis und Unterstützung erfährt das junge Mädchen kaum. Ihr Vater lebt weit weg und ihre Mutter ist dabei, sich selbst zu finden. Nur bei Margrit fühlt sie sich wohl. Die unterstützt sie auch in ihrem Ziel, Tätowiererin zu werden und bietet sich selbst als Übungsobjekt an. Den Einwand, ein Tatoo sei für immer, wehrt sie ab: „ …mein für immer ist eine sehr absehbare Zeit.“
Auch bei Arthur rätselt der Leser lange, was ihn so belastet. Früher arbeitete er gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder als Taucher. Nun jobbt er als Fahrer in der Seniorenresidenz, kutschiert die Betagten zur Dialyse oder in den Römischen Garten. Daneben erfindet er Sprachen, sog. Conlang ( = Constructed language) für Science Fiction- oder Fantasy- Geschichten , oder sucht mit seiner Sonde den Elbstrand ab.
Es sind alle drei ungewöhnliche Figuren mit einem interessanten Hintergrund, die uns Katharina Hagena mit viel Empathie nahebringt. Äußere Geschehnisse fließen in den Text ein, so wie sie unser aller Leben beeinflussen, so z.B. Margrits Erinnerungen an den Krieg oder an die Shoa ( eine Musiklehrerin verschwindet von einem Tag auf den andern) oder der Klimawandel, der sich auch in der Elblandschaft ablesen lässt. Manches dagegen, vor allem zum Ende hin, wirkt etwas gewollt wie z.B. Arthurs Reise nach Belarus.
Die Handlung erstreckt sich über zwölf Tage, denen jeweils ein längeres Kapitel gewidmet ist. Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive der drei Hauptfiguren. Jeder Tag wird eingeleitet mit einer kurzen, aber sehr atmosphärischen und poetischen Beschreibung der Natur am Rande der Elbe. Erst am Ende wird aufgelöst von wem diese lyrischen Passagen stammen.
Es ist eine ruhige Erzählweise, wie die Elbe fließt sie dahin. Das meiste findet in den Gedanken und Erinnerungen der Figuren statt. Dabei gibt es viele kluge, nachdenkenswerte Überlegungen , z.B. über die verschiedenen Formen von Stille ( „ …jene Stille, die eintritt, nachdem der Besuch gegangen ist“ ) oder von Schweigen. ( „ Es gibt so viele Schweigen, wie es Gefühle gibt….Ein beredtes Schweigen klingt anders als ein vielsagendes Schweigen.“) Daneben finden sich humorvolle Wortverdrehungen wie „ Internetz“, das voll ist von Leuten, die „ nur senden, und niemand mehr empfangen.“ Oder die App, mit der man Pflanzen erkennen kann, wird bei Margrit zum „ Pflanzenerkennungssepp“.
Leider verliert sich der positive Leseeindruck zum Ende hin. Einige Episoden sind nicht nur unnötig, sondern verwässern das Ganze. Manches ist schlicht unglaubwürdig . Schade!
Trotzdem halte ich „ Flusslinien“ für einen lesenswerten Roman, der Themen wie Alter und Tod, Familie und Freundschaft, Traumata und Verluste auf berührende Weise verhandelt. Ein Buch voller Symbolik und Anspielungen, die sich möglicherweise erst bei einer zweiten Lektüre ganz erschließen.