eher Gesellschaftsroman als Krimi

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Laut Klappentext geht es in „Fräulein Anna, Gerichtsmedizin“ um einen Todesfall, den eine Mitarbeiterin der Gerichtsmedizin und ein Skandalreporter lösen wollen. Damit weckt der Klappentext den Anschein, man lese hier einen Krimi vor historischem Hintergrund und die beiden Hauptfiguren „ermittelten“ gemeinsam. Tatsächlich spielt der Kriminalfall über weite Strecken keine Rolle und es werden von den Protagonisten auch keine aktiven Ermittlungen betrieben. Aus meiner Sicht ist das zentrale Thema des Romans die Münchener Gesellschaft im ausgehenden Prinzregenten-Zeitalter (Zeitraum 1912-1914).
Der Roman lebt von seinen – wie ich finde – sehr gut gezeichneten Figuren, insbesondere von seinen beiden Hauptfiguren: der neunzehnjährigen Anna, die aus einfachen Verhältnissen stammt und nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester eine Stelle als Obduktionsassistentin ergattert. Und Baron Friedrich von Weynand, der sich in seinem Leben voll Überfluss langweilt und sich daher heimlich als Reporter Fritz Nachtwey betätigt.
Die Gedanken, Gefühle und Dialoge der beiden machen den Roman amüsant und unterhaltsam einerseits, regen andererseits auch zum Nachdenken und Mitfühlen an und transportieren die Haltungen verschiedener Gesellschaftsschichten zu Anfang des 20. Jhd. Insbesondere Friedrich ist eine Figur, die mir in ihrer Dekadenz, aber auch Menschlichkeit sehr gut gefallen hat und die so viel Witz und Charme versprüht, dass man geneigt ist, über das Machohafte an ihm hinwegzusehen.
Ich finde, es ist Petra Aicher sehr gut gelungen, ein Bild der Münchner Gesellschaft kurz vor dem 1. Weltkrieg zu zeichnen. Deshalb ist mein Fazit:
Als Gesellschaftsroman lesenswert und von mir gern gelesen, als Krimi eher mittelprächtig.