Die andere Seite des Mondes
„Frau im Mond“ von Pierre Jarawan, erschienen 2025 im Berlin Verlag, ist ein beeindruckender und vor allem bewegender Roman, der ein ganzes Jahrhundert umspannt und dabei aus einer ungewöhnlichen Perspektive auf diese Zeit schaut.
Die Zwillingsschwestern Lilit (die erzählende Person) und Lina el Shami, Nachkommen libanesischer Auswanderer in der dritten Generation und in Montréal in Kanada lebend, stoßen eines Tages auf eine alte Postkarte von ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt haben. Dadurch animiert, macht sich Lilit auf in den Libanon, um dort die Geschichte ihrer Großmutter und ihrer Herkunft zu ergründen. Dabei stößt sie auf die Lebanese Rocket Society (oder genauer Haigazian College Rocket Society) und die große Liebe ihres Großvaters Maroun zur Weltraum- und Raketenwissenschaft, von der sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts ahnte. Und über allem, was sie entdeckt, wacht die Frau im Mond.
Der Roman ist gegliedert in drei Stufen, wie die Weltraumrakete, die ebenfalls in drei Stufen ins All aufsteigt und dabei immer mehr Ballast abwirft. Dabei folgen die Kapitel einen Countdown von 50 auf Null – und wir reisen durch die Geschichte bis ins Beirut der Gegenwart. Das Cover des Romans ist ein Kunstwerk, das ich stundenlang betrachten könnte, und Jarawan schreibt ebenso kunstvoll, stark atmosphärisch, jede Figur so packend und lebendig, dass man sie umarmen möchte (gut, bis auf ein paar Antagonisten, die das wahrlich nicht verdient haben), er hat obendrein viel sehr feinen Humor und immer wieder glücken äußerst poetische Passagen und Bilder. Vor allem aber gelingt ihm das Kunststück, 100 Jahre Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte des Libanons, von der ich zuvor viel zu wenig wusste, in eine Familiengeschichte einzubetten – jederzeit nahbar und plausibel. Er scheut sich dabei nicht, auch die Perspektive des Romanschreibenden einzubringen und den Prozess des Schreibens immer wieder offenzulegen – und das ist gar nicht prätentiös, sondern einfach nur clever gemacht, da die Erzählerin Lilit als Dokumentarfilmerin auch den Weg der Geschichtenschreibenden geht. Lilits Reise ist auch eine Emanzipation von ihrer Zwillingsschwester Lina, die schon längst ihr eigenes Leben gefunden hat, während Lilit noch ziellos hinter der Angst, ihre Begabung zu nutzen, verschwindet. Im Libanon wird ihr auch klar, wie viel Reichtum in ihrem Leben ist – und wie wenig dieser selbstverständlich ist. Es ist das Vermächtnis der Generationen, das nach ihr greift, auf die gute Art und Jarawan macht diese positive Last jederzeit spürbar.
Was wissen wir wirklich über den Libanon, über den Genozid an den Armeniern, über die große Armut, die über dieses Land gekommen ist, über die Situation der Menschen und insbesondere der Frauen dort, über gut und böse Raketen, über Flucht und über Bleiben? Nicht viel, habe ich gemerkt und Pierre Jarawan ist genau der richtige Mensch, um das zu ändern. Wie lassen sich ein Jahrhundert, drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt und eine Revolution in einer Geschichte unterbringen? Indem man aus dem Herzen und über die Menschen schreibt, die darin leben und das meisterhaft, durchweg begeisternd, voller Liebe und Wärme, voller trickreicher Wendungen und Verbindungen, mit ungeheuer genauer Recherche, vielen Details und dennoch einer ganz klaren thematischen Führung, einem starken, bildhaften Mondmotiv, das nie überstrapaziert wird und einem Fluss im Schreiben, der uns durchs All schweben lässt.
„Wenn wir uns nicht erinnern, machen wir uns zu Komplizen der Täter.“, lässt Jarawan Maral im Roman sagen. Seine Erinnerung ist mehr als geglückt. Er hat ein Epos zwischen zwei Kontinenten geschrieben, das sich in jedem Moment schwerelos und zugleich unendlich tief anfühlt. Die andere Seite des Mondes, die wir nie sehen können, macht er sichtbar. Was für ein Meisterstück. Lesen.
Die Zwillingsschwestern Lilit (die erzählende Person) und Lina el Shami, Nachkommen libanesischer Auswanderer in der dritten Generation und in Montréal in Kanada lebend, stoßen eines Tages auf eine alte Postkarte von ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt haben. Dadurch animiert, macht sich Lilit auf in den Libanon, um dort die Geschichte ihrer Großmutter und ihrer Herkunft zu ergründen. Dabei stößt sie auf die Lebanese Rocket Society (oder genauer Haigazian College Rocket Society) und die große Liebe ihres Großvaters Maroun zur Weltraum- und Raketenwissenschaft, von der sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts ahnte. Und über allem, was sie entdeckt, wacht die Frau im Mond.
Der Roman ist gegliedert in drei Stufen, wie die Weltraumrakete, die ebenfalls in drei Stufen ins All aufsteigt und dabei immer mehr Ballast abwirft. Dabei folgen die Kapitel einen Countdown von 50 auf Null – und wir reisen durch die Geschichte bis ins Beirut der Gegenwart. Das Cover des Romans ist ein Kunstwerk, das ich stundenlang betrachten könnte, und Jarawan schreibt ebenso kunstvoll, stark atmosphärisch, jede Figur so packend und lebendig, dass man sie umarmen möchte (gut, bis auf ein paar Antagonisten, die das wahrlich nicht verdient haben), er hat obendrein viel sehr feinen Humor und immer wieder glücken äußerst poetische Passagen und Bilder. Vor allem aber gelingt ihm das Kunststück, 100 Jahre Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte des Libanons, von der ich zuvor viel zu wenig wusste, in eine Familiengeschichte einzubetten – jederzeit nahbar und plausibel. Er scheut sich dabei nicht, auch die Perspektive des Romanschreibenden einzubringen und den Prozess des Schreibens immer wieder offenzulegen – und das ist gar nicht prätentiös, sondern einfach nur clever gemacht, da die Erzählerin Lilit als Dokumentarfilmerin auch den Weg der Geschichtenschreibenden geht. Lilits Reise ist auch eine Emanzipation von ihrer Zwillingsschwester Lina, die schon längst ihr eigenes Leben gefunden hat, während Lilit noch ziellos hinter der Angst, ihre Begabung zu nutzen, verschwindet. Im Libanon wird ihr auch klar, wie viel Reichtum in ihrem Leben ist – und wie wenig dieser selbstverständlich ist. Es ist das Vermächtnis der Generationen, das nach ihr greift, auf die gute Art und Jarawan macht diese positive Last jederzeit spürbar.
Was wissen wir wirklich über den Libanon, über den Genozid an den Armeniern, über die große Armut, die über dieses Land gekommen ist, über die Situation der Menschen und insbesondere der Frauen dort, über gut und böse Raketen, über Flucht und über Bleiben? Nicht viel, habe ich gemerkt und Pierre Jarawan ist genau der richtige Mensch, um das zu ändern. Wie lassen sich ein Jahrhundert, drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt und eine Revolution in einer Geschichte unterbringen? Indem man aus dem Herzen und über die Menschen schreibt, die darin leben und das meisterhaft, durchweg begeisternd, voller Liebe und Wärme, voller trickreicher Wendungen und Verbindungen, mit ungeheuer genauer Recherche, vielen Details und dennoch einer ganz klaren thematischen Führung, einem starken, bildhaften Mondmotiv, das nie überstrapaziert wird und einem Fluss im Schreiben, der uns durchs All schweben lässt.
„Wenn wir uns nicht erinnern, machen wir uns zu Komplizen der Täter.“, lässt Jarawan Maral im Roman sagen. Seine Erinnerung ist mehr als geglückt. Er hat ein Epos zwischen zwei Kontinenten geschrieben, das sich in jedem Moment schwerelos und zugleich unendlich tief anfühlt. Die andere Seite des Mondes, die wir nie sehen können, macht er sichtbar. Was für ein Meisterstück. Lesen.