Fruchtbarkeitssymbol

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heike lohr Avatar

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Kurzum, beginne ich am Ende, also am Eindruck zu diesem Buch, meine Rezension, so muss ich sagen: Beeindruckend, vor allem die vielen Wendungen der Handlungen.
Wer sich in die Leseprobe eingelesen hat, weiß, dass es anscheinend um Maroun gehen soll, der wegen Demenz ins Altersheim muss. Das Schlimmste ist, dass er Raketen baut und zündet, was natürlich in Kanada, in Montreal, eine Gefahr ist, für welche es keine Erklärung oder Entschuldigung gibt.
Der Teppich, den er von seiner Frau geschenkt bekommen hat, ist seine Inspiration, so wird er nämlich von seiner Frau für ihn kontextualisiert.
Sie will ihn damit ermutigen, wobei sie gleichzeitig die wahre Herkunft, Bedeutung und Symbolik verschleiert: die sogenannte Raketenfrau ist ein altes armenisches Symbol für Fruchtbarkeit.
Maroun hat nach dem Tod seiner Frau Anoush und dem Tod seines Kindes sowie dessen Partner seine Enkelkinder, die beiden Zwillingsschwestern Lilith und Lina aufgezogen. Beide sind fast gleich und doch unterschiedlich in manchen Charaktereigenschaften. Während es Lina gelungen ist, eine Familie zu gründen, ist Lillith wieder Single und hat einen Film als Dokumentarfilmerin gedreht.
Maroun ist geprägt von enem Stummfilm "Die Frau im Mond", den er sich nach Jahrzehnten mit seinen Enkeltöchtern ansieht. Dieser Film ist eine Mischung aus Spionage-, Liebes- und Science-Fichtion-Film, in dem unterschieldliche Protagonisten aus diversen Gebieten eine Rakete namens Frieden bauen.
Das alles ist schon ein komplexer Erzählteppich, der uns zeigt, was alles in der Lebensgeschichte von Maroun und Anoush zu finden ist. Alles ist eng miteinander verwoben und wird mit geschickter Hand des Autors Pierre Jarawan zu diesem beeindruckendem Roman verknüpft. Dabei ist dessen Herkunft aus Jordanien von einem Elternteil her wirklich ein Movens, die Mentalität des Libanons, des Landes mit der Zeder, wirklich zu verstehen und verstehbar darzustellen.
Der einfühlsame Erzählstil, die psychologisch gut gezeichneten Charaktere und das kriminalistisch-narrative Aufdecken der Familiengeheimnisse lassen fast auf eine weibliche Autorenhand schließen, doch der Autor ist eindeutig männlich.
Ein Motiv durchzieht Liliths Recherche zu ihrer Famliem nämllich der Postkartensatz von Anoush zu Maroun: "Es gibt für den menschlichen Geist kein Niemals, sondern nur ein Noch-Nicht." Und für den Teppich schrieb sie ihm "...möge die Frau im Mond dir den Weg weisen".
Sie hat diesen Teppich, wie sich am Ende des Buches und der Recherchen im Libanon herausstellt, über ihren Schwager von ihrer verschollenen Zwillingssschwester Anahid bekommen, welche den Teppich mit dem Fruchtbarkeitssymbol der Fruchtbarkeitsgöttin signiert hat. Sie wwurde nämlich nach ihr benannt.
Sie ist nicht in das schreckliche Waisenhaus Antoura gekommen wie ihre Zwillingsschwester, sondern wurde von einem türkischen Soldaten aus dem Zug genommen und adoptiert. Somit war sie eine von vielen Kryptoarmenierinnen, die dann als Muslima gelebt hat.
Beide Zwillingsschwester haben eine Leere und ein Trauma gehabt, nicht nur durch die Kriegs- und Rassenwirren ihrer Jugend, sondern auch davon dass sie von einander getrennt wurden und sich nicht mehr an ihre Schwester erinnern konnten. Sie haben einfach weitergemacht.
Lilith und wir als geneigte Leser/innen erfahren viel vom heutigen und damaligen Libanon, von Politik und Finanzpolitik, dem Kampf der Frauen um Rechte, die Seiden- und Teppichproduktion, Armut, Hoffnungen und Träume. In mosaikartig aneinandergereihten Sequenzen der erzählten Gegenwart, den Rückblenden in die Vergangenheit, einmal aus Sicht Liliths, aus Marouns Sicht und einmal aus Anoush Sicht etc. sowie den unterschiedlichen Gesprächen und den Zeitungsartikeln erfahren wir ein groß angelegtes Bild von Ereignissen des Libanons, den Fluchtbewegungen und anderen Überlebenstaktiken. Dabei geht es auch um den bis heute nicht wirklich aufgearbeiteten Völkermord an den Armeniern, wie es schon von Franz Werfel einmal in "Die vierzig Tage des Musa Dagh" thematisiert wurde. Eine Klärung der Schuldfrage würde zuviele Wunden auf allen Seiten aufreißen und aus diesem Grunde noch keine Vergangenheitsbewältiung darstellen. Denn die Konklusion des Buches ist, dass das Erforschen der Familiengeschichte gleichzeitig ein Gang durch die Geschichte wird und dass man durch das Erkennen seiner Wurzeln sich verändert und Probleme lösen kann bzw. sich die Sichtweise auf das Leben positiv verändert.Gerade diese Entdeckung und die Erkenntnis, wie stark die Frauen dieser Familie waren, machen Lilith stärker. Doch auch ihr Großvater ist nicht mehr der mit dem Raketentick, sondern er hat in Beirut wirklich mit seinen Studierenden Raketen gebaut und abgeschossen, die den Namen Cedar hatten und die durchnummeriert wurden. Cedar Acht hat er mit dem Symbol der Raketenfrau versehen und sie gelangte wirklich ins All. Symbolisch hat er das für sich und auch seine frau gemacht, weil er mit diesen Abschüssen seine Träume und ihre Traumata verwirklicht und abgeschlossen hat. Auch wenn ich einiges zusammengefasst habe, enthält das Buch so viele interessante Details, dass sich das Lesen wirklich lohnt. Prädikat: lesenswert. Lesedauer für mich: eine Woche. Ich brauchte Pausen zum Nachdenken und Erholen. Denn Bücher bringen auch immer neue Erkenntnisse und Einsichten, die sich auch in das Leben der Lesenden integrieren müssen.