Literarische Besonderheit
REZENSION – „Auch wenn mir immer noch nicht klar war, wie sich ein Jahrhundert, drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt und eine Revolution in einer Geschichte unterbringen lassen sollen“, lässt der Autor seine junge Protagonistin Lilit el Shami zweifeln, aus ihrer vielschichtige Familiengeschichte einen Dokumentarfilm machen zu können. Doch trotz der Komplexität des umfassenden Materials schafft es der deutsche Schriftsteller Pierre Jarawan (40) jedenfalls in seinem im April beim Berlin Verlag veröffentlichten Roman „Frau im Mond“ auf erstaunliche Weise, uns von der Suche der jungen kanadischen Filmemacherin nach den libanesischen Wurzeln ihrer Familie auf lockere und trotz mancher tragischer Geschehnisse auch auf humorvolle Art zu erzählen.
Die inzwischen erwachsenen Zwillingsschwestern Lilit und Lina el Shami sind nach dem frühen Tod ihrer Eltern liebevoll umsorgt bei ihrem libanesisch-stämmigen Großvater Maroun in Montreal aufgewachsen. Eines Tages finden sie eine jahrzehntealte Postkarte ihrer längst verstorbenen Großmutter Anoush, die sie nie kennengelernt haben. Darauf ist ein Liebesgruß an den damals jungen Maroun zu lesen mit dem für die Zwillinge unverständlichen Hinweis auf eine „Frau im Mond“. Erst jetzt als Erwachsene werden sich die beiden jungen Kanadierinnen ihrer libanesischen Wurzeln bewusst und beginnen, angeregt durch diese Karte, Fragen nach der Großmutter und ihrer eigenen fremdländischen Herkunft zu stellen. „Wir Kinder der dritten Generation waren behaglich in unsere Leben hineingeschlüpft und so behütet darin, dass wir uns nicht gemeint fühlten, wenn von Rassenmischung die Rede war oder von drohender Überfremdung.“ Warum wissen die Zwillinge nichts über das Leben ihrer Großmutter im Libanon? Warum haben die Eltern nichts über die Großeltern erzählt? Was hat es mit der Begeisterung des heute 100-jährigen Großvater für Raketen auf sich? Wie haben sich die Großeltern überhaupt kennengelernt? Da der inzwischen leicht dement gewordene Maroun seiner Enkelin nur unzureichend Auskunft geben kann, reist Lilit im Juli 2020 kurzerhand in das Land ihrer Vorfahren und macht sich in Beirut auf Spurensuche.
Bei ihrer Recherche dringt Lilit tief in die Geschichte des von den Osmanen in den Jahren 1915/1916 begangenen Völkermords an den knapp zwei Millionen Armeniern ein, deren Überlebende – wie Großmutter Anoush als kleines Kind – im Libanon Zuflucht fanden und seitdem ebenso wie ihre Nachkommen unter dem Trauma des Geschehens leiden. Gleichzeitig erfährt Lilit von den hoffnungsvollen Versuchen des Libanons in den 1960er Jahren, mit Hilfe der Lebanese Rocket Society zeitgleich mit der Sowjetunion und den USA das All zu erobern. Tatsächlich gelang dies am 4. August 1966 mit dem achten Raketenstart, weshalb man im Libanon schon davon träumte, in naher Zukunft einen eigenen Mann zum Mond schicken zu können.
„Wenn wir an den Nahen Osten denken, denken wir selten an Fortschritt, Selbstbestimmtheit oder überschwängliche Träume“, wird Jarawan im Interview zitiert. „Mich hat die Idee einer Geschichte fasziniert, die die ständige Opfererzählung über den Libanon nicht wiederholt, sondern von starken Figuren lebt, die unterschiedliche Träume verfolgen.“ Die literarische Umsetzung dieser Idee ist ihm in „Frau im Mond“ ausgezeichnet gelungen.
„Ein Erzähler, so sagt man, ist jemand, der von anderswo kommt, der auf dem Dorfplatz diejenigen versammelt, die den Ort nie verlassen haben und die durch ihn andere Berge, andere Monde, andere Geheimnisse und Gesichter sehen können“, heißt es im Roman. Pierre Jarawan, in Jordanien geborener Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter, ist zweifellos ein großartiger Erzähler. Er verknüpft sehr geschickt eine durch historische Ereignisse gebrochene Familiengeschichte mit dem Auf und Ab der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Libanon. Dies alles schildert er in einer lockeren, bildhaften Sprache – gelegentlich auch zu ausgeschmückt und in Einzelheiten sich verlierend, fast dem Stil alter orientalischer Erzählungen ähnlich. Darunter mag der dramaturgische Spannungsbogen etwas leiden, andererseits lockert gerade dieses leicht wirkende Plaudern eines Geschichtenerzählers den Roman auf und macht ihn leicht lesbar.
„Frau im Mond“ ist trotz des lockeren Plaudertons eine durchaus anspruchsvolle, vielschichtige Erzählung über die Suche nach familiärer Identität, über schicksalsbedingten Verlust und generationenübergreifenden Schmerz sowie anhaltender Sehnsucht nach Erfüllung eines Lebenstraums. Es ist eine in Teilen historisch informative, überwiegend aber durchaus unterhaltsame, in jedem Fall aber in Stil und Inhalt ungewöhnliche Geschichte, die den Roman „Frau im Mond“ literarisch zu etwas Besonderem und lesenswert macht.
Die inzwischen erwachsenen Zwillingsschwestern Lilit und Lina el Shami sind nach dem frühen Tod ihrer Eltern liebevoll umsorgt bei ihrem libanesisch-stämmigen Großvater Maroun in Montreal aufgewachsen. Eines Tages finden sie eine jahrzehntealte Postkarte ihrer längst verstorbenen Großmutter Anoush, die sie nie kennengelernt haben. Darauf ist ein Liebesgruß an den damals jungen Maroun zu lesen mit dem für die Zwillinge unverständlichen Hinweis auf eine „Frau im Mond“. Erst jetzt als Erwachsene werden sich die beiden jungen Kanadierinnen ihrer libanesischen Wurzeln bewusst und beginnen, angeregt durch diese Karte, Fragen nach der Großmutter und ihrer eigenen fremdländischen Herkunft zu stellen. „Wir Kinder der dritten Generation waren behaglich in unsere Leben hineingeschlüpft und so behütet darin, dass wir uns nicht gemeint fühlten, wenn von Rassenmischung die Rede war oder von drohender Überfremdung.“ Warum wissen die Zwillinge nichts über das Leben ihrer Großmutter im Libanon? Warum haben die Eltern nichts über die Großeltern erzählt? Was hat es mit der Begeisterung des heute 100-jährigen Großvater für Raketen auf sich? Wie haben sich die Großeltern überhaupt kennengelernt? Da der inzwischen leicht dement gewordene Maroun seiner Enkelin nur unzureichend Auskunft geben kann, reist Lilit im Juli 2020 kurzerhand in das Land ihrer Vorfahren und macht sich in Beirut auf Spurensuche.
Bei ihrer Recherche dringt Lilit tief in die Geschichte des von den Osmanen in den Jahren 1915/1916 begangenen Völkermords an den knapp zwei Millionen Armeniern ein, deren Überlebende – wie Großmutter Anoush als kleines Kind – im Libanon Zuflucht fanden und seitdem ebenso wie ihre Nachkommen unter dem Trauma des Geschehens leiden. Gleichzeitig erfährt Lilit von den hoffnungsvollen Versuchen des Libanons in den 1960er Jahren, mit Hilfe der Lebanese Rocket Society zeitgleich mit der Sowjetunion und den USA das All zu erobern. Tatsächlich gelang dies am 4. August 1966 mit dem achten Raketenstart, weshalb man im Libanon schon davon träumte, in naher Zukunft einen eigenen Mann zum Mond schicken zu können.
„Wenn wir an den Nahen Osten denken, denken wir selten an Fortschritt, Selbstbestimmtheit oder überschwängliche Träume“, wird Jarawan im Interview zitiert. „Mich hat die Idee einer Geschichte fasziniert, die die ständige Opfererzählung über den Libanon nicht wiederholt, sondern von starken Figuren lebt, die unterschiedliche Träume verfolgen.“ Die literarische Umsetzung dieser Idee ist ihm in „Frau im Mond“ ausgezeichnet gelungen.
„Ein Erzähler, so sagt man, ist jemand, der von anderswo kommt, der auf dem Dorfplatz diejenigen versammelt, die den Ort nie verlassen haben und die durch ihn andere Berge, andere Monde, andere Geheimnisse und Gesichter sehen können“, heißt es im Roman. Pierre Jarawan, in Jordanien geborener Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter, ist zweifellos ein großartiger Erzähler. Er verknüpft sehr geschickt eine durch historische Ereignisse gebrochene Familiengeschichte mit dem Auf und Ab der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Libanon. Dies alles schildert er in einer lockeren, bildhaften Sprache – gelegentlich auch zu ausgeschmückt und in Einzelheiten sich verlierend, fast dem Stil alter orientalischer Erzählungen ähnlich. Darunter mag der dramaturgische Spannungsbogen etwas leiden, andererseits lockert gerade dieses leicht wirkende Plaudern eines Geschichtenerzählers den Roman auf und macht ihn leicht lesbar.
„Frau im Mond“ ist trotz des lockeren Plaudertons eine durchaus anspruchsvolle, vielschichtige Erzählung über die Suche nach familiärer Identität, über schicksalsbedingten Verlust und generationenübergreifenden Schmerz sowie anhaltender Sehnsucht nach Erfüllung eines Lebenstraums. Es ist eine in Teilen historisch informative, überwiegend aber durchaus unterhaltsame, in jedem Fall aber in Stil und Inhalt ungewöhnliche Geschichte, die den Roman „Frau im Mond“ literarisch zu etwas Besonderem und lesenswert macht.