Hat Potenzial

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singstar72 Avatar

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Ich bin diesem Buch mit großer Neugierde begegnet - immerhin hat Nigeria schon zahlreiche bedeutende Autoren, auch Autorinnen, hervorgebracht. Ich war gespannt, ob sich Tomi Obaro mit z. B. Helen Oyeyemi oder Chimananda Ngozi Adichie messen kann. Die Antwort lautet - noch nicht ganz, aber sie ist auf einem guten Weg dorthin.

Normalerweise bedeuten drei Sterne bei mir "mittelmäßig". Hier jedoch tendiere ich eher zum "Daumen hoch" als "Daumen runter". Zu vier Sternen hat es aus meiner Sicht nicht gereicht, weil viele Ansätze im Ungefähren verblieben, oder nicht weiterverfolgt wurden. Insgesamt fand ich das Buch aber durchaus sehr gut lesbar - als reiner Unterhaltungsroman sogar ziemlich gut.

Die drei Hauptfiguren Enitan, Zeinab und Funmi fand ich alle lebendig geschildert, mit gut erkennbaren Eigenheiten und Macken. Gut getan hat dem Buch auch die Schilderung aus verschiedenen Perspektiven. Der "Rückblende-Teil" in der Mitte des Buches hätte aus meiner Sicht jedoch durchaus länger sein können!

Das Buch hatte definitiv das Zeug zu einer echten Familiensaga - die lauerte sozusagen hinter jeder zweiten Seite. Nur leider wurde davon zu vieles nicht ausgeführt. Das Buch hätte gut und gerne 200 Seiten mehr vertragen. Es war nicht einmal so, dass es schlecht geschrieben war - ich hatte eher den Eindruck, hier hat die Autorin (oder eine Lektorin) aus falscher Bescheidenheit gekürzt. Warum wird Zeinab denn keine Autorin? Immerhin war ihr Mann doch nicht immer krank? Oder was macht Funmis Ehemann nun genau? Wir haben hier nichts weiter als Andeutungen im Klappentext. Auch hätte ich gerne näher gewusst, woran die Ehe von Enitan und Charles nun genau zerbrochen ist.

Der Spannungsbogen war auch nicht ganz glücklich ausgeführt. Man wusste schon ziemlich genau, von Anfang an, worauf das alles im dritten Teil hinauslaufen würde. Da wirkte die detailreiche Schilderung der nigerianischen Hochzeit mit dem erahnten Ausgang beinahe antiklimaktisch. Hier hätte ich mir mehr schicksalhafte Verflechtung gewünscht. Dieses lapidare "okay" von Funmi war mir einfach zu wenig.

Es gab aber auch viel Gutes! Zum Beispiel die Rolle, die Literatur in Nigeria spielt. Viele der großen afrikanischen Autoren wurden zitiert und diskutiert - Achebe, Ngugi, Soyinka, Tutuola, sie alle kamen vor. Gleichzeitig wurde aber deutlich gemacht, dass diejenigen, die überhaupt in Nigeria lesen, nämlich zumeist die Frauen, von den großen Autoren kaum etwas mitbekommen, und lieber an ihren Liebesromanen hängen bleiben.

Die Rolle der Politik im Buch fand ich interessant! Auf den ersten Blick könnte man das Buch für unpolitisch halten. Doch nein. Funmi lernt ihre große Liebe in einer Gruppe von Aktivisten kennen. Es gibt Studentenunruhen, und Präsidentschaftswahlen. Busse werden von Straßenräubern überfallen, Menschen entführt. Und selbst bei einer Hochzeit stehen Wachleute mit Kalaschnikows vor dem Tor...! Das Interessante ist nun, dass sich über die Zu- und Umstände hauptsächlich die Männer im Buch unterhalten und aufregen. Väter, Brüder, Freunde, Dozenten. Die Frauen werden zwar gelegentlich gefragt, haben aber entweder keine Meinung dazu, sind zu schüchtern, oder sind schlicht froh, wenn alles vorüber geht. Die Botschaft scheint mir klar zu sein: Politik ist in Nigeria weitestgehend Männersache.

Gut eingebunden auch die Rolle der Religion in Nigeria. Zeinab ist Muslimin, als einzige der Drei. Das grenzt sie jedoch überhaupt nicht aus. Es gibt viele christliche, auch charismatische, Kirchen - die Menschen im alltäglichen Leben werden jedoch eher als "gelegenheitsfromm" geschildert. Gleichzeitig boomt der Markt mit Lobpreismusik und Fernsehpredigern.

Es stimmt schon, die Dialoge unter den Freundinnen und ihre Interessen bewegen sich oft eher auf dem Niveau von "Young Adult"-Literatur. Es geht um Frisuren, Hochzeiten, WhatsApp-Gruppen, Kleider und nochmals Kleider, und nigerianisches Essen. Nun, vielleicht trägt hier auch die Übersetzung ihren Teil dazu bei - der Ton ist teilweise locker bis flapsig. Dennoch, insgesamt war das Ganze gut lesbar. Tragik bekommt das Buch, wie bereits ausgeführt, schon durch die Umstände.

Ich habe das Buch gerne gelesen - leise Anklänge von "Americanah" waren durchaus zu spüren, ebenso wie Spuren von "Sex and the City". Eine lebendige Mischung, die meiner Meinung nach nur zu kurz geraten ist.