Der Odem des Vergangenen

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botte05 Avatar

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„Kurz vor der Französischen Revolution erhält ein junger, ehrgeiziger Ingenieur aus der Provinz den Auftrag, einen jahrhundertealten Friedhof zu beseitigen, dessen Ausdünstungen die Stadt Verpesten und allmählich die Anwohner zu vergiften drohen. Jean-Baptiste Baratte versucht, sich in der neuen Umgebung und unter den fremden Menschen zurechtzufinden, die ihm keineswegs alle wohlgesinnt sind. Die bedrohlichen, unheimlichen oder auch nur unerklärlichen Vorfälle zeigen, wie stark das Alte noch in den Köpfen der Menschen steckt.“ – Zitat Buchrücken.

Frankreich, 1785, der junge Ingenieur Jean-Baptiste Baratte erhält vom Minister einen besonderen Auftrag. Er soll den Friedhof Les Innocents in Paris von den architektonischen und menschlichen Überresten befreien und dem Areal gesunden Boden zurückgeben. Ein Auftrag, welcher besondere Sensibilität verlangt. Für Baratte, den jungen, unerfahrenen Mann aus Bellême in der Normandie eine willkommene Gelegenheit, sich einen Namen zu machen.

Er bezieht Quartier bei der Familie Monnard und findet unverhofft einen Freund und Wegbegleiter in Armand, dem Organisten der baufälligen Friedhofskirche. Zunächst bewahrt Baratte Stillschweigen über den eigentlichen Sinn und Zweck seiner Aufgabe. Er nimmt Kontakt zu einem Freund aus früheren Tagen auf, der ihm hilft, aus den Reihen der Bergarbeiter Mitarbeiter für die Arbeiten am Friedhof zu gewinnen. Erst als die nötigen Vorbereitungen getroffen und Vorarbeiten erledigt sind, bricht er sein Schweigen, wobei der eine oder andere ohnehin die Vermutung gehegt hatte, seine Arbeit bestünde in etwas anderem als vordergründig genannt.

Andrew Miller lässt die Ära kurz vor der Französischen Revolution vor meinem inneren Auge Gestalt annehmen. In seinem – der damaligen Zeit angemessenen – Erzählstil führt er mich in diese Epoche sowie an den Ort des Geschehens. Schnörkellos beschreibt er die harte, fast unmenschliche Arbeit, die es zu verrichten gilt. Authentisch erlebe ich die Schwierigkeiten dieses Unterfangens, einen Friedhof möglichst pietätvoll zu beseitigen. Es gilt, logistische, menschliche, wetterbedingte und pekuniäre Probleme, jeweils zeitnah und tagesaktuell mit den zur Verfügung stehenden, teilweise unzureichenden Mitteln jener Zeit, zu lösen. Baratte bleibt nicht nur Ingenieur, er muss auch seine Qualitäten in Menschenführung, Motivation, Einfühlungsvermögen und Durchsetzungskraft herausarbeiten, festigen und umsetzen sowie als gutes Vorbild voranschreiten. Aus dem unerfahrenen Jüngling wird ein Mann, dem schlussendlich in dieser unwirklichen, ungastlichen und tödlichen Umgebung sogar die Liebe begegnen wird.

Nicht zuletzt dank der Unterstützung seiner Freunde, kann Baratte dieses Projekt überhaupt überleben, durchhalten und nach einem Jahr erfolgreich abschließen. Sein Abschlussbericht für den Minister ist an der einen oder anderen Stelle etwas geschönt, etwas zurechtgebogen, aber auch damals zählt ja schlussendlich nur das Endergebnis.

Der Bucheinband ist schlicht gehalten und mit einer Zeichnung illustriert. Diese könnte Baratte in seinem Zimmer bei den Monnards darstellen, welcher erschöpft, verzweifelt oder sogar beides über seiner Arbeit zusammengesunken ist. Eine Darstellung, die nach Lesen des Buches m. E. sehr gut gelungen ist.
Zu Beginn des Buches findet sich eine Rezension von Clare Clark, Guardian. Diese nimmt ein wenig vorweg, was sich dem Leser erst im Laufe der Zeit erschließt, so dass ich sie als abrundenden Schlusspunkt besser gefunden hätte. Des Weiteren ist im Vorfeld des „eigentlichen Buches“ ein Gespräch zwischen Andrew Miller und seiner Lektorin abgedruckt, welches ich ebenfalls im Schlussbereich angesiedelt hätte.

Das Buch war für mich zunächst nicht ganz so einfach zu lesen, da ich mich an den Schreibstil, dem 18. Jahrhundert angepasst, erst einmal gewöhnen musste. Andrew Miller ist es jedoch gelungen, mich mit in diese Epoche zu nehmen, beinahe kann ich die Ausdünstungen der Gräber und den Atem der Bewohner im Viertel um den Friedhof wahrnehmen. Zum Glück jedoch nur beinahe. Die örtlichen Gegebenheiten sind mir vertraut geworden, die Protagonisten erhalten ein Gesicht. Und auch Baratte, in seiner zunächst unbeholfenen Art, insbesondere menschlichen Gefühlen und/oder Abgründen gegenüber, ist mir ans Herz gewachsen.

Für mich ein gutes, lesenswertes Buch, welches evtl. nichts für zartbesaitete Gemüter ist und ein gewisses Grundinteresse an einem – aus heutiger Sicht – eher ungewöhnlichen Projekt sowie dem schweren Leben und Arbeiten der Menschen in Frankreich im auslaufenden 18. Jahrhundert voraussetzt.

Rezension: Andrew Miller, Friedhof der Unschuldigen, Zsolnay Verlag, Literatur, gebundene Ausgabe, 384 Seiten, 21,90 €, Erscheinungsdatum: 29.07.2013