Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer

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Jean-Baptiste Baratte, 28-jährig, Ingenieur, aus der Normandie stammend, wird vom Minister – eher aus Zufall – mit der Aufgabe betraut, die Kirche und den Friedhof „Les Innocents“ (heute ein Marktplatz bei Les Halles) zu demolieren. Der Friedhof existiert schon seit Jahrhunderten und hat dementsprechend viele Tote aufgenommen und überquillt schon. Seit fünf Jahren sind Friedhof und Kirche deshalb schon geschlossen. Baratte macht sich daran, die Aufgabe, welche man ihm aufgetragen hat, zu erfüllen. Was ihm aber alles in dem Jahr, welches er brauchen wird, um seine Aufgabe zu einem Ende zu bringen, wiederfahren wird, damit wird er wahrscheinlich nicht gerechnet haben….

Wahrscheinlich wird jedem, welcher Süskinds „Das Parfum“ gelesen hat, zu Beginn dieses Romans so etwas wie ein Déjà vue wiederfahren. Der Vorname der Hauptfigur (Jean-Baptiste), das überaus stinkende Friedhofsquartier – der Atem der Leute, die Lebensmittel, die Luft, ja eigentlich stinkt alles nach Verwesung. Damit hört die Ähnlichkeit aber eigentlich auch schon auf, obwohl der „moderne“ Pistaziengrüne Anzug, welcher Jean-Baptiste (vorher trug er einen braunen Anzug) vom Organisten Armand ( einer Figur, mit welcher ich einfach nicht wirklich warm wurde) praktisch aufgedrängt wird – wir wollen ja zur Partei der Zukunft gehören – vielleicht eine Anspielung auf „Grenouille“ (Frosch) sein könnte? Und nachdem Jean-Baptiste im Verlauf des Romans angegriffen wurde, trägt er einen schwarzen Anzug (Genfer Pastor, Kalvinist). Ist er jetzt noch Anhänger der Partei der Zukunft, d.h. ein Freigeist, Schüler Voltaires, ein Vernunftmensch, oder nicht mehr?

Die Geschichte erstreckt sich von Oktober 1785 bis Oktober 1786 (seltsamerweise wird einmal ein Montag 10. Juni erwähnt, das Jahr soll eigentlich 1786 sein, aber erst im Jahre 1788 war der 10. Juni ein Montag ?). Erzählt wird zwar in der dritten Person, aber manchmal hatte man das Gefühl, man würde eher ein Tagebuch lesen, Barattes Tagebuch. Es werden Episoden an Episoden gereiht, was eigentlich interessant ist, da man durch diese Art viel vom Alltagsleben der damaligen Zeit, der Protagonisten erfährt. Aber irgendwie wird dann auch etwas angedeutet, aber nicht weitergeführt (z.B. dieser Hundswolf/Wolfshund) oder man kann sich einfach nicht wirklich erklären, warum ein Protagonist seltsamerweise nun mal das tut, was über ihn geschrieben wird? Manchmal hätte ich mir eine bessere Erklärung über die Psyche/das Handeln der Protagonisten gewünscht.
Das Ausräumen der Armengräber/Gruben, über zwanzig an der Zahl und überhaupt die Nähe zu diesem Friedhof, wird manch einer der handelnden Personen im Roman mit der Zeit zum Verhängnis. Krankheit, Vergewaltigung, Selbstmord und Irrsinn auf der einen Seite, wird durch das Erfahren von Freundschaft und Liebe auf der anderen Seite ergänzt, aufgelöst bzw. „gespiegelt“. Obwohl die Protagonisten im ganzen Roman vom Tod umgeben sind, werden aber nur zwei Menschen im Verlauf desselben sterben.
Und was machen die Protagonisten sonst noch, ausser den Friedhof zu demolieren? Sie essen/fressen, trinken/saufen, lieben sich/huren herum, gehen ins Theater, machen Musik, reisen ein wenig herum und sind sonst ab und zu ziemlich selbstgefällig.

Es ist der Beginn des Zeitalters der Aufklärung, der Vernunft, der Empfindsamkeit. Das Ancien Régime gab es lange genug in Frankreich, macht den Weg frei für die Partei der Zukunft, für die „Männer, die Paris reinigen“ und die „Vergangenheit beseitigen“ werden. Nur ein paar Jahre später wird die Französische Revolution ausbrechen. Aber sind die Menschen wirklich bereit dafür, für ein Zeitalter der Vernunft?

Fazit: Mich hat dieses Buch aus zwei anfänglichen Gründen angesprochen. Zum einen das Titelbild, eine Abänderung von Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, welches mir sehr gefallen hat. Zum zweiten der Autor Andrew Miller, von dem ich bereits „Die Gabe des Schmerzes“ gelesen hatte. Nun hat mich aber „Der Friedhof der Unschuldigen“ ziemlich zwiespältig zurückgelassen. Mit einzelnen der Protagonisten wurde ich einfach nicht warm und ich konnte ein, zwei Dinge, welche einzelne Figuren im Verlauf des Romans gemacht haben, einfach nicht wirklich nachvollziehen, warum hat ausgerechnet diese Figur diese Tat begangen? Andererseits wird mich dieses Buch sicher noch lange beschäftigen, bis ich vielleicht auch mehr davon verstanden und für mich enträtselt haben werde.
Ein Buch, welches einem noch lange nach der Lektüre beschäftigen wird, hat also eigentlich so oder so bereits gewonnen. Vielleicht würde ich dem Roman später sogar mehr Sterne geben…