Älterwerden: Vater und Tochter an der Schwelle in ihrer Beziehung

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Ein wunderschöner Anfang, den man gut nachvollziehen kann: der Moment, in dem man vor der Haustür des Elternhauses steht, wo man lange nicht gewesen ist, zumindest nicht in Person, nur in Gedanken. In dem Moment bleibt die Zeit stehen und die Vergangenheit wird so präsent wie die Gegenwart. Alles ist wieder da, die Menschen, die Situationen und die Gefühle. Und damit auch der Schmerz über das, was vorgefallen ist und die Sehnsucht nach denen, die nicht mehr da sind. Als Erwachsene nachhause zu kommen ist immer auch die eigene Kindheit zu besuchen. Umso schwieriger wird es, wenn die Rollen wechseln und die Eltern krank und zerbrechlich werden oder sterben. Dieser Roman umfasst einen Sommer, in dem Vater und Tochter gleichermaßen an Schwellen ihres Lebens stehen: Der Vater spürt, dass er alt ist und nicht mehr unabhängig leben kann. Die Tochter, die ihr Leben lang von einem Ort zum anderen gezogen ist, merkt, dass sie ihr Ziel verloren hat. Nach Jahren der Konflikte prallen diese zwei jetzt aufeinander und müssen sich miteinander auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Dabei kommt zunächst in inneren und äußeren Konfrontationen vieles hoch, alle Narben und offenen Wunden, die ganze Lebensgeschichte der beiden und damit der ganzen Familie.
„Geschaute Wirklichkeit ist freundlich – und wenn sie auch noch so brutal ist.“ Es ist ein Appell, sich mit dem, was einen verkrampft und stört auseinanderzusetzen, es nicht in sich hinein zu fressen und nicht zu verheimlichen. Das geht schief wie bei der Mutter und der Schwester.
Es ist auch ein Buch, das sich viel mit dem Tod und den Toten beschäftigt, dem Abschluss eines Lebens und der Sehnsucht der Übriggebliebenen. „Sie trägt ihre Mutter in sich. [...] Ihre Mutter und ihre anderen Toten. Sie sind alle noch da. Unsichtbar, unhörbar, nicht zu greifen für alle anderen, aber sie fühlt sie.“
Bis zum Schluss bleibt die Frage, ob Vater und Tochter es schaffen, sich zu öffnen, aufeinander zuzugehen, sich zu arrangieren.
Der Roman wird sanft und behutsam erzählt, die Perspektive wechselt zwischen Vater und Tochter. Sie erzählen mehr uns, den Lesern, als sich gegenseitig. Das hat manchmal Längen, macht aber insgesamt Sinn und passt zum Rhythmus der Handlung. Das Lesen braucht seine Zeit wie auch der Prozess des Zusammenlebens von Vater und Tochter. Es ist ein schönes Buch für ruhige Stunden und Besinnlichkeit.