Die Menschheit im Stillstand

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
frischelandluft Avatar

Von

„In der Natur ringsherum vergeht die Zeit, aber wir wurden aus ihr hinausbefördert. Und außerhalb der Zeit verharren wir in einem Zustand von Nichtsterben und Nichtwachsen, einem Stillstand, einer Art Ewigkeit.“
Das ist die interessante Prämisse des Buches, was ich sehr spannend finde. Auf einmal ist der Mensch, sind alle Menschen nicht mehr Teil der Welt, es gibt die Welt und es gibt die Menschheit. Als Leserin fühle ich mich einbezogen in den Erkennungs- und Erlebnisprozess der ganz unterschiedlichen Charaktere des Romans. Da sind die schwangere Frau und ihr Mann, der werdende Vater; die krebskranke Fotografin und ihre Familie; das alte Paar, das gerade in ein altersgerechteres Apartment umzieht und ihr Leben ändert; eine Hebamme; eine Angestellte im Begräbnisinstitut/Extremsportlerin und ihre Freunde. Was haben sie alle gemeinsam? Sie sind ganz nah an der Thematik Leben, seine Entstehung und Vergänglichkeit. Dieser neue nur für den Menschen zeitlose Raum ist in ihrem Leben besonders bedeutsam. Wie gehen sie damit um? Was ist ihre erste Reaktion? Wie ändert sich die Einstellung mit den Wochen, Monaten? Ihre Beziehung zu ihren Mitmenschen? Wie verändert sich die Gesellschaft? Ich finde die Thematik sehr interessant und toll ausgeführt, eine drastische Idee, um sich mit Leben, Tod und Entwicklung auseinanderzusetzen. Eine Figur sagt, „Wir waren auch einmal Natur, wir Menschen, dachte sie. Jetzt sind wir nicht länger Teil dieses Kreislaufs, und ich weiß nicht, was wir sind, wer wir sind. Wenn es uns überhaupt gibt. Denn ein Mensch, der so unveränderlich ist wie ein Bild, muss eine Fiktion sein.“
Es geht um den Menschen und seine Beziehung zur Natur, was schon eine merkwürdige Ausdrucksweise ist, denn eigentlich ist der Mensch Teil der Natur. Es geht um die Wertschätzung des Lebens, allen Lebens, um die Notwendigkeit, sich als Teil des Ganzen zu fühlen und zu benehmen und auch um das Miteinander, wenn sich die Umstände ändern, um eine andere Art von Carpe Diem.
Mich hat die Situation immer wieder an die Coronamonate erinnert, ohne dass dieser Roman Corona je erwähnt hätte oder ein Abklatsch dieser Zeit wäre. Aber ich könnte mir vorstellen, dass der Autorin die Idee in den Lockdowns gekommen ist. Durch die stark veränderte Situation haben sich Freunde, Familienmitglieder, die ganze Gesellschaft, wir uns alle verändert. Aber das hier ist kein Coronaroman, es ist ein Roman, der sich auf wunderbare Weise damit auseinandersetzt, wie der Mensch in die natürliche Dimension der Zeit eingebettet ist, dass es ein Jetzt gibt, eine Vergangenheit und eine Zukunft – ohne diese Dimension funktioniert das Leben nicht. Ein anderer Aspekt ist natürlich, dass es höchste Zeit ist, dass sich der Mensch wieder in Einklang mit der Natur bringt, bevor alles zerstört ist, gibt es den Stillstand, weil die Natur sich wehrt? Ungewöhnlich, sehr lesenswert, unterhaltend, manchmal lustig, manchmal tragisch, manchmal bedrückend und sehr eindrucksvoll.