Interessantes Gedankenexperiment
Maja Lunde geht in diesem Roman der Frage nach, was macht es mit Menschen, wenn plötzlich die Zeit stehen bleibt. Es stirbt niemand mehr, Babies werden nicht mehr geboren, Krankheiten kommen zum Stillstand. Jedes Kapitel widmet sich jeweils einer Figur, was die Perspektiven auf das Thema erweitert - die todkranke Fotografin und Mutter Jenny, der Rentner Otto usw. Mit der Zeit verweben sich einzelne Biografien, treffen Figuren aufeinander. Besonders nachgegangen ist mir die Figur des Außenseiters Philip, der "es in seinem Leben nicht leicht gehabt" hatte, vernachlässigt und oft sich selber überlassen gewesen war, seinen Selbstwert aus einer vermeintlichen "angeborenen inneren Stärke" zieht und gleichzeitig eine massive innere Unruhe und tiefe Unsicherheit und Verlorenheit spürt. Dessen kontraphobischer Krisengewinn, Vergemeinschafterung mit Pseudo-Gleichgesinnten und Radikalisierung mit der Möglichkeit sich nun endlich erfolgsorientiert präsentieren zu können, hat mich zeitweise auf eine beklemmende Art an die Coronazeiten erinnert. Auch die Figur der Fotografin Jenny hat mich sehr berührt mit der Frage, was bleibt, wenn ein Mensch geht. Ein bisschen mehr Tiefe in der philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage des gesellschaftlichen Zeitstillstandes hätte mich sehr gereizt. Alles in allem ist aber in jedem Fall ein gut lesbarer Roman, bei dem jeder Leser vermutlich auf seine Art Figuren findet, denen er sich näher fühlt bzw. andere, die ihn möglicherweise weniger erreichen.