Wer das "dazwischen" aushalten kann, dem sei die Lektüre wärmstens empfohlen

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Die Zellteilung stoppt. Das ist, naturwissenschaftlich ausgedrückt, das, was passiert, wenn die Zeit anhält. Es gibt keine Geburten mehr, Babys entwickeln sich im Bauch nicht weiter. Aber auch Schmerz und Krankheit bleiben einfach stehen, verschwinden nicht, aber sind nicht mehr wahrnehmbar.

Wie lebt es sich in einem solchen Szenario für jemanden, der...

...seine letzten Jahre mit seinen Hobbys füllen und seinen Lebensabend genießen wollte?
...in der 26. Woche schwanger ist?
...vor kurzer Zeit eine tödliche Diagnose erhalten hat?

Es ist ein krasses Gedankenexperiment, dass Maja Lunde in ihrem neuen Roman (Ü: Ursel Allenstein) vor uns aufrollt. Multiperspektivisch erleben wir eine Welt, in der niemand mehr essen muss. In der nichts voran, nichts zurück geht. Und schnell wird klar: wir sind Getriebene. Leben ohne Fortschritt, ohne "morgen", ohne Entwicklung, das ist schwer aushaltbar. Die Krankenhäuser werden immer voller, denn sterben kann niemand mehr, weder bei einem Unfall noch bei einem Freit0d.
Erklärungen werden gesucht, in der Wissenschaft, der Archäologie, dem Glauben, der Esoterik. Die Entwicklung der Krise und des Umgangs damit lässt schnell Parallelen zu Corona ziehen. Regierende werden skeptisch beäugt, "der Presse" nicht mehr viel geglaubt und Querdenker-Foren erleben regen Zulauf.
Wir sehen allerdings im Roman nicht abstrakt auf die Geschehnisse, sondern begleiten, wie schon in Lundes anderen Büchern, unterschiedliche Protagonist*innen. Nahbar und aus der Realität gegriffen fächert sich die Handlung vor uns auf und macht zunächst die Euphorie greifbar, leben zu dürfen, bevor sie schließlich ins Grauen kippt, leben zu müssen. Ich habe die Schilderungen regelrecht inhaliert, aber nicht ohne ein gewisses Unbehagen. Man könnte das Buch für einen Wissenschaftsthriller halten, aber das ist es nicht, da es sich auf den Umgang der einzelnen Personen mit der neuen Situation konzentriert und keine Lösungsansätze oder Erklärungen bietet. Das ist ziemlich unbequem, aber wegen des Kuschellektüren-Faktors lese ich die Autorin auch nicht. Wer auf der Suche nach einem ruhigen, ungewöhnlichen Buch ist und diesen Stillstand und das "dazwischen" aushalten kann, dem sei die Lektüre wärmstens empfohlen!