Ein eindrucksvolles Buch

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taina Avatar

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Fritzi Prager, vor dem Abitur ungewollt schwanger, lernt noch im Krankenhaus die Türkin Günes kennen, deren Tochter Polina ebenfalls ohne Vater aufwachsen wird. Beide Frauen sind klug und unabhängig und voller Liebe zu ihren Kindern. Hannes ist ein stiller Junge, der den Tönen dieser Welt lauscht. Fritzi zieht in eine Wohnung in einer alten Villa mitten in einem Naturschutzgebiet. Zwischen den ungleichen Kindern – Polina ist wild und schnell, Hannes langsam, zurückhaltend – entwickelt sich eine enge Freundschaft, bis Günes und Polina in die Türkei gehen.
Der Hauptmieter Heinrich Hildebrand, ein älterer Mann, ist ein musikalisch und literarisch gebildeter Sonderling. Hannes genießt die abendliche Musik aus dessen Plattensammlung, er liebt Mahler und Chopin. Mit achteinhalb klettert Hannes während eines Gewitters in Hildebrands altes Klavier und entlockt ihm Töne, die seine musikalische Begabung offenbaren. Fortan wird er von Hildebrand unterrichtet. Als er zwölf ist, kommen Günes und Polina zurück. Hannes kann seine Gefühle ihr gegenüber nicht in Worte fassen, seine Sprache ist die Musik.
Dieser erste Teil des Romans folgt dem Rhythmus der Natur, dem Autor gelingt es, Gefühle und Gedanken auszudrücken, ohne sie zu erklären – Handlungen, Geräusche, die Bäume, der Wind sagen alles. Das ist wunderbar geschrieben und ein literarisches Kunststück.
Mit dreizehn komponiert Hannes eine Sonate für Polina und spielt sie ihr vor, sie ist tief berührt. Keiner der beiden Heranwachsenden kann die Worte finden, die so dringlich erwartet werden. Fritzi Prager kommt infolge eines Unfalls ums Leben und Hannes wird fortan bei seinem Vater in einer vollständig veränderten Welt leben. Sein Vater sieht in der Musik vor allem den Verwertungsgedanken, während sie für Hannes ein Ausdruck seines Innern ist, also verweigert er sich und sein wunderbares Klavierspiel verstummt bald. Auch beim Vater zeigt der Autor wortlos den Charakter dieses Mannes, der in einer Villa wohnt, in der der Marmor dominiert. Hannes wird in den nächsten Jahren Klaviere transportieren. Er vermisst Polina schmerzlich, kann ihr jedoch bei ihren seltenen Begegnungen nicht sagen, dass er sie liebt, so wendet sie sich schließlich anderen Männern zu. Sie studiert, verschwindet aus seinem Blickfeld. Erst nach dem Tod seines Vaters erfährt er, dass sie ihn nie vergessen hat.
Heimlich stimmt Hannes die von ihm transportierten Klaviere, und die Klänge, die sie einmal beherbergt haben, treten zutage. Bei einem Unfall verliert er dann den linken Ringfinger, sodass er fortan nur noch eingeschränkt Klavierspielen kann. Er erkennt, dass die zurückliegenden ‚verschwendete Jahre‘ waren, er braucht Polina, die jedoch unauffindbar ist. Sein letzter Auftrag führt ihn zu einem alten Klavier, auf dem er selbstvergessen die Sonate spielt, die er einmal für sie geschrieben hatte. Dieses Spiel wird – wie sollte es heute anders sein – mit dem Handy einer Zuschauerin aufgenommen und geteilt. Der nun folgende Ansturm kommt wohl dem Autor selbst unheimlich vor, er betont, wie unwahrscheinlich die folgende Entwicklung ist. Hannes spielt ein Album ein, geht dann, mit nur noch neun Fingern, auf Konzerttournee. Sein Zugang zur Musik rührt die Menschen an, und auch Polina kommt zurück, als er die Hoffnung bereits aufgegeben hat, sie jemals zu finden. Leider hört der Roman hier nicht auf, sondern hält einige ziemlich verkitschte Szenen bereit, die den wunderbar poetischen, leichten, schwebenden Anfang des Buches aus dem Gleichgewicht bringen. Allein, dass am Ende nicht alles gut ist, nicht gut sein kann nach diesen langen Wirrungen, hält die geneigte Leserin davon ab, das Buch nun in die Ecke zu werfen.
Ein jedoch insgesamt sehr spannender und lesenswerter Roman, für den man sich Zeit nehmen muss, um die zwischen den Worten evozierten Bilder wirken zu lassen.