Schneewittchen auf Speed

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singstar72 Avatar

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Trotz des ironisch angehauchten Titels meiner Rezension: das Buch hat mir insgesamt gut gefallen! Ich bezweifle nur, ob es wirklich für Jugendliche geeignet ist. Doch der Reihe nach.

Die ganze Grundidee fand ich innovativ, das hat mich sehr angesprochen: klassische Märchen der Brüder Grimm in die Zukunft zu verlegen. Nicht nur zu modernisieren, nein, sie in eine noch ferne Zeit zu transponieren. An üblichen "Modernisierungen" von Märchen haben sich ja durchaus schon bekannte Autoren versucht, z. B. A. S. Byatt. Dementsprechend war ich gespannt, ob sich Holly Jane Rahlens hier würde einreihen können.

Verschiedene Dinge haben mir hier sehr gut gefallen. Erstens, die Bandbreite der verwendeten Textsorten. Blog-Eintrag, Gruselgeschichte, Song, Fernsehserie, Drehbuch... das war schon beeindruckend. (Diese typischen Kennzeichen der literarischen Postmoderne dürften aber an Jugendlichen eher vorbeigehen.) Zweitens hat die Autorin ihren eigenen Namen immer wieder verfremdet, und irgendwie in die Märchen eingeschleust - das war ein liebenswertes Detail! (ob das aber Jugendlichen auffällt...?) Drittens hat sie öfters versucht, die Bedeutung von Märchen und vom Erzählen an sich in den Texten unterzubringen. Auch hier muss ich sagen: sehr schön, aber für Jugendliche...?

Was absolut gut gemacht war, war die "Nähe" der Texte zur jugendlichen Erlebniswelt. Es ging durchweg um junge Leute, und deren Nöte. Sogar etliche schwer moderne Themen wurden (vor allem in die Rahmenhandlungen) eingebracht: Umweltkatastrophen, Klimawandel, Genderproblematik, Flüchtlingswellen. Und an einer Stelle meinte ich durchaus einen Hinweis auf die Corona-Epidemie vorzufinden (" ein Virus, das die ganze Welt verändert hat"). Auch sehr gut: die Verwendung der modernen Technik, wie man sie sich vorstellt, und wie sie vermutlich Jugendliche ansprechen wird.

Was hat aber trotzdem zu einem Stern Abzug geführt? Eben die Tatsache, dass ich die angestrebte Zielgruppe des Buches schwer einordnen kann. Jugendliche, hm, vielleicht auch, aber so richtig Spaß hat man an diesen Texten erst, wenn man die Meta-Ebene und die ganzen Parodien durchschaut. Zweitens fand ich die ganzen Verschachtelungen, Rahmenhandlungen und Durchbrechungen der Erzählebenen manchmal ein wenig "too much". Das würde Jugendliche überfordern. Es gab nur sehr wenige Texte, die ohne Verschachtelung eine Geschichte ganz "straight" erzählten. Und drittens, mir haben die Illustrationen einfach nicht gefallen. Weder vom Stil, noch von der Farbgebung her. Dumpfes und diffuses Orange und Blau - dazu Motive, die nicht wirklich schön sind. Nicht mein Ding. Dafür war das Format des Buches dann wieder gut: etwas größer, und von guter Qualität, eben wie ein Märchenbuch. Der innere Umschlag mit den Rauten und den Krönchen hat mir dann wieder gut gefallen.

Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass mir etwas aufgefallen ist. Es handelt sich um eine Originalausgabe; der Text wurde aber dennoch übersetzt...? Das hat mich verwirrt. Ich habe nachgeforscht. Die Autorin, gebürtige Amerikanerin, macht das wohl öfters so. Lebt in Deutschland, schreibt ihre Bücher aber auf Englisch. Aha. Doch dann stellen sich mir wiederum Fragen. In den Texten wird vermehrt auf Deutsch als eine der "toten Sprachen" verwiesen, in einem der fiktiven Vorworte wird erklärt, warum es auf Deutsch erscheint, und ein Text, ein englisches Kinderlied, ist wie ein Schulbucheintrag aufgebaut, mit Erklärungen und Vokabular... dann muss die Autorin das dennoch alles so geplant haben...?? Oder hat die Übersetzerin das im Alleingang so gestaltet?? Hier wüsste ich gerne mehr.

Insgesamt empfehle ich dieses Buch gerne weiter an entdeckungslustige Leser. An Jugendliche würde ich es aber nur weitergeben, wenn ich denjenigen gut kenne.