Mädchenmorde in Varange

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theresia626 Avatar

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Der Kriminalroman „Galgenmann“ (im Original: Le jeu du pendu) von Aline Kiner spielt in Lothringen, einer Region im Nordosten Frankreichs. Der Prolog beginnt im Jahr 1944. Es ist bitterkalt am Heiligabend, und in der vollbesetzten Kirche in dem kleinen Dörfchen Varange wird das erste Weihnachtsfest seit der Befreiung gefeiert. Kurz vor Mitternacht, der Gottesdienst ist gerade zu Ende, verliert Mathilde Ziegler ihren Ehemann Johann aus den Augen. Sie glaubt, dass er zum Grab seiner Eltern gegangen ist, das sich im oberen Teil des Friedhofs befindet. In der Nähe der Statue des Dieu Piteux – dem Gott des Erbarmens – sieht sie ihn, erhängt an einer Eiche, davor ein Schild mit der Aufschrift: Der Strick für Kollaborateure. 60 Jahre später entdeckt der pensionierte Dorfpfarrer Louis Sugères bei einem Spaziergang im Waldgebiet von Puits-Renard die Leiche der 17jährigen Nathalie Caspar. Sie liegt in einer Erdspalte, um ihren ganzen Körper ist ein Seil gebunden, um Brust, Handgelenke und Knöchel. Fast zeitgleich kommt der aus Paris strafversetzte Kommandant Simon Dreemer in Metz an. Er hatte die Mutter eines angeblich durch Selbstmord umgekommenen Kindes zu hart verhört, weil er ihr nicht traute. Die Mutter hatte daraufhin einen Selbstmordversuch unternommen. Während seiner Zugfahrt wird er auf eine Nachricht im Lokalteil der Zeitung aufmerksam, in der es um Demonstrationen gegen die Flutung geht. Es ist die Rede von Einstürzen, die auf die Stilllegung der Eisenbergwerke zurückzuführen ist. In Lothringen ist das allerdings nichts Ungewöhnliches, hier dominierte der Bergbau. Mit Kowalski, Dreemers neuem Chef, Mauduit und Tellier geht es sofort zum Tatort in das zwanzig Kilometer entfernte Varange, wo Dreemer mit seiner ortskundigen Kollegin Jeanne Modover die Ermittlungen aufnimmt. Jeanne entdeckt im Archiv des Departements, dass 1993, also vor elf Jahren, die 17jährige Alice Mayer unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Ihr Adoptivvater Joseph Mayer geriet damals auch wegen Inzestgerüchten ins Visier der Ermittler. Später wurde die Sache als Unfall zu den Akten gelegt. Jetzt wird er erneut befragt. Wie gut kannte er Nathalie, und schenkte er ihr das teure Parfüm, das Dreemer in ihrem Zimmer fand? Wenige Tage später wird die 15jährige Odile Monchau gleichfalls tot in einer Erdspalte gefunden. Wie hängt das alles zusammen? Auf dem Dorffriedhof werden rätselhafte Symbole entdeckt, die möglicherweise im Zusammenhang mit den Morden stehen können. Den entscheidenden Hinweis bekommen die Ermittler von Armand Keller, dem alten Dorfarchivar, dessen Interesse historischen Dokumenten gilt. Als er 1945 aus dem Konzentrationslager Struthof nach Varange zurückgekehrt ist, war nichts mehr so wie früher, denn nach dem Abzug der Deutschen fing das Schlimmste erst an. „Die Verdächtigungen und Vergeltungsakte.“ (S. 39) „Armand setzte seine Brille wieder auf und ließ seinen Blick über die auf den Regalen gestapelten Aktenordner gleiten. Ja, wenn es einmal geschrieben steht, kann man es nicht mehr auslöschen.“ (S. 127) Er versucht, eine Verbindung zwischen dem Lynchmord an Johann Ziegler und den aktuellen Morden herzustellen, aber die Wahrheit, die ans Licht kommt, ist eine andere, als Ermittler und Leser erwarten.
Aline Kiner weiß, worüber sie in ihrem Kriminalroman „Galgenmann“ schreibt. Sie ist die Tochter eines Minenarbeiters und gleichfalls in Lothringen aufgewachsen. Schon dadurch ist sie mit den örtlichen Gegebenheiten und historischen Geschehnissen bestens vertraut. Das Dorf Varange steht stellvertretend für alle anderen Orte, wo die Menschen durch ihre Tätigkeit in den Minen geprägt wurden und es zu persönlichen Tragödien kam. Mir gefällt, wie die Autorin Landschaft und Geschichte in ihren Roman einbezieht, obwohl dadurch streckenweise die Morde in den Hintergrund geraten, und die Aufklärung ins Stocken gerät. Ihre Protagonisten sind gut gezeichnet. Dreemer und Modover bilden ein interessantes Ermittlerteam, dem ich gerne wieder begegnen würde. Ein empfehlenswerter Debütroman.