Die vergessenen Frauen Mexikos

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Ein kleines Bergdorf im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, mitten im Dschungel. Nicht viele Menschen leben dort, und seit die Schnellstraße von Acapulco nach Mexico City in der Nähe des Ortes entlangführt, ist das Dorf an die Außenwelt angeschlossen. Die Männer gehen in die USA, dem einzigen Ort, an dem sich Träume erfüllen lassen. Am Anfang kommen sie gelegentlich zurück, um ihre Familien zu besuchen. Eine Weile lang schicken sie noch Geld oder schleppen Geschlechtskrankheiten ein. Irgendwann verliert sich ihre Spur, lediglich Gerüchte dringen bis in das Dorf in den Bergen, Gerüchte, die die Frauen mit gebrochenem Herzen zurücklassen, sehnsüchtig, wütend, rachsüchtig. Ein Ort, an dem es keine Männer gibt und an dem es besser ist, ein Junge zu sein. Denn die Gegend wird beherrscht von Drogenkartellen, und gelegentlich kommen sie vorbei mit ihren schwarzen SUVs und nehmen eines der hübschen Mädchen mit. Normalerweise sieht man sie nie wieder. Es verschwinden Menschen in diesem Land, ohne dass das irgendjemanden kümmert. Es sterben Menschen in diesem Land, ohne dass man jemals ihre Gräber findet.

Das ist die Umgebung, in der Ladydi zusammen mit ihren drei Freundinnen aufwächst. Jeweils für ein Jahr kommt ein Lehrer aus der Hauptstadt, um die wenigen Kinder zu unterrichten. Wenn sie Hubschrauber hören, verstecken sie sich in Häusern, wohl wissend, dass es Armeehelikopter sind, die mit Pflanzengift Marihuana- und Mohnfelder vernichten. Meist treffen sie daneben. Man sollte glauben, dass hier niemand bleiben will, und dennoch tun die Frauen genau das, sie bleiben und bilden eine ganz eigene Gemeinschaft. Zumindest für Ladydi sind ihre Freundinnen das Wichtigste. Bis eine von ihnen von den Drogenhändlern mitgenommen wird.

Eine Geschichte über ein junges Mädchen, das in einem Sumpf aus Dschungelhitze und Insekten, verlassenen Müttern und der ständigen Angst vor Drogenkartellen aufwächst, kann furchtbar bedrückend und beklemmend erzählt werden, eigentlich ist kaum vorstellbar, wie sie anders erzählt werden sollte. Doch Jennifer Clement gelingt es, den Fokus ihres Romans auf die Bindungen zwischen den Menschen zu legen. Auf die Figuren, wie sie sich verändern, wie die Ereignisse sie prägen, aber auch, dass Wärme und Zuneigung meist von den Menschen kommt, von denen man es am wenigsten erwartet. Vielleicht weil diejenigen, die vom Leben gebrochen wurden, ein Gespür für Nähe entwickeln, eine starke Sehnsucht danach, auch wenn sie nie für immer ist.

Neben mitunter sehr schönen Passagen und Metaphern ist der Text sprachlich meist recht einfach gehalten, doch das ist die Protagonistin ebenfalls, schließlich hat sie nie mehr als die Grundschule abgeschlossen und bezieht den Großteil ihres Wissens aus dem Fernsehen. Aber einfach heißt nicht dumm, denn wenn Angst und Tod gegenwärtig sind, lernt man eine ganze Menge über das Leben. Und dieses Leben, so befremdlich es mitunter erscheinen mag, ist wirklich eindringlich und facettenreich geschildert, manchmal märchenhaft, mit all der Düsternis, die Märchen eben auch enthalten, und einem fast sarkastischen, hintergründigen Humor. Hierbei geht die Autorin, vor allem in der ersten Hälfte des Buches, nicht chronologisch vor, sondern schildert die wichtigsten Ereignisse im Leben ihrer Hauptfigur zwischen dem elften und etwa vierzehnten Lebensjahr wie einen bunten Flickenteppich, sodass man manchmal Mühe hat, sie, trotz gelegentlicher Wiederholungen, in der richtigen Reihenfolge zu sortieren. Ladydi ist gebunden an die anderen, ihr Leben besteht aus ihren Freundinnen und ihrer Familie, selbst dann noch, als all das nach und nach zerbricht. Denn irgendwann muss auch sie selbstständig werden, ihr eigenes Leben leben, eine eigene Arbeit finden. Das tut sie auch, gerät dabei jedoch in ein Verbrechen, das all die Pläne, obwohl es keine großen waren, wieder zunichte macht.

Über zehn Jahre lang recherchierte die Autorin für diesen Roman. Sie reiste, sie sprach mit Menschen, die in Guerrero leben, hauptsächlich mit Frauen und Mädchen, weil das eben die Menschen sind, die zurückbleiben, diejenigen, die die tiefsten Wunden tragen und die die intensivsten Geschichten zu erzählen haben. Vor allem in einem Land wie Mexiko. Entstanden ist daraus ein sehr eindringliches Zeitzeugnis, das Bild eines Lebens, das zwar sehr individuell und trotz aller Wahrheit fiktiv ist, dabei jedoch unglaublich warmherzig, berührend und weise in all der Düsternis bleibt. In Gebete für die Vermissten liest man von den Spuren der Gewalt der Männer und dem Zerfall eines Landes. Bitter ist das. Manchmal witzig, dabei immer sehr authentisch. Wahrscheinlich benötigt man einen besonderen Blick, um Humor und Liebe in der Dunkelheit zu finden. Eine besondere Art zu schreiben. In diesem Buch findet man beides.