Schönes Mexico, armes Mexico

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Ladydi Garcia Martinez lebt mit ihrer Mutter in einem kleinen Dorf in Guerrero. Der Bundesstaat im Süden Mexikos hat nicht viel mehr zu bieten als trockenes Land, Gummibäume, Leguane und Skorpione. Er zählt zu den vier ärmsten Staaten des Landes. Die wenigsten Einwohner können die schönen Pazifikstrände um die Stadt Acapulco genießen. Viele Männer versuchen ihr Glück über die Grenze in die USA. Nur wenige von ihnen schaffen den Weg durch den Rio Grande. Von den wenigen, die es schaffen, kehren die wenigsten in die armselige Hütte zurück. Zurück bleiben die Frauen, die sich und die Kinder vor Übergriffen schützen müssen.

In dem Dorf, über das Jennifer Clement schreibt, gibt es keine Männer mehr. Die Frauen schlagen sich mit Saisonarbeiten oder Dienstleistungen für die Reichen aus der Hauptstadt durch. Als Lebensgrundlage dient das, was auf dem Berg wächst. Da es kaum nennenswerte Wirtschaftszweige gibt, lebt vor allem die indigene Bevölkerung, zu der Ladydi gehört, in großer Armut. Die Mädchen leben zusätzlich in ständiger Angst vor Entführungen. Drogendealer kommen in ihren schwarzen Geländewagen angefahren und verschleppen die jungen Mädchen. Ladydis Mutter kleidet ihre Tochter zum Schutz in Jungensachen und richtet sie absichtlich hässlich her. Jede Hütte verfügt außerdem über ein schnell erreichbares Versteck. Nur eine einzige Freundin hat es bislang wieder zurück geschafft. Ihre Misshandlungen lassen sich nur erahnen. Sprechen kann sie darüber nicht.

Die Autorin beschreibt in treffenden Worten die Alltagssituation der Einheimischen. Sie lässt dabei das Leben mitsamt des Misstrauens, der Religiosität, des fehlenden Gesundheitssystems und der Allmacht der Drogenhändler zwischen den Zeilen spürbar werden. Ihre Protagonistin ist eine 14-jährige, die es gewohnt ist, sich in der Öffentlichkeit ihre Identität zu verbergen und sich absichtlich hässlich zu machen. Nur so hat sie eine Chance zum Überleben. Das Buch ruft latent eine Beklemmung hervor, ohne direkt anzuklagen. Jeder weiß, dass die Missstände in Bezug auf Schutz der Menschenrechte behoben werden müssen, doch niemand greift ein. Die wenigen sozialen Dienste, die in Abständen angeboten werden, scheinen wie Tropfen auf heißen Steinen. Die steigende Gewaltbereitschaft des organisierten Verbrechens und der Bevölkerung, die sich nicht anders zu helfen wissen, schwebt auch in diesem Roman wie eine unsichtbare Glocke über dem Berg. Die Autorin lässt ihre Leser im dritten und letzten Teil der Geschichte einen Blick in ein Gefängnis in Chilpancingo werfen. Auch in den staatlichen Einrichtungen herrscht Willkür und Folter. Fassungslos liest man Kapitel um Kapitel, um festzustellen, dass in Mexiko andere Gesetze gelten.

Der Roman sticht durch seine plastische und farbige Darstellung der Lebensumstände um Ladydi hervor. Sie und ihr Umfeld stehen Pate für unzählige Familien in dieser Region. Ihre Mentalität und Denkweise sind treffend beobachtet. Die vernichtende Gewalt steht im krassen Gegensatz zur Barmherzigkeit und Nächstenliebe der Menschen. Eine langjährige akribische Recherche ließen die unzähligen Einzelschicksale und Ereignisse zu einer runden Geschichte werden. Fließend wie das Leben selbst reihen sich gute wie schlechte Eigenschaften, Liebe, Verlust, Vertrauen und Missbrauch aneinander. Es rüttelt auf, ohne mit dem Finger auf bestimmte Gruppen zu zeigen. Wünschenswert wäre es, wenn diese Gebete für die Vermissten erhört werden.