"Befreit euren Geist, und euer Hintern wird folgen."

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Die deutsche Übersetzung von David Sheffs Biographie über Jarvis Jay Masters, einen Gefängnisinsassen, welcher in den USA zum Tode verurteilt wurde und seit den 1990er Jahren auf die Vollstreckung wartet, erschien 2021 im O.W. Barth Verlag.
David Sheff ist ein nordamerikanischer Autor, der größere Bekanntheit mit seiner Autobiographie Beautiful Boy erlangte, welche 2018 verfilmt wurde. Nun widmete er sich der Biographie eines Gefängnisinsassen, der seine Einstellung zum Leben gewandelt hat und Buddhist geworden ist.
Jarvis Masters wurde 1981 mit 19 Jahren wegen über einem Dutzend Raubüberfällen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Seine Kindheit war traumatisch und voller Gewalt. Selbst die wenigen Lichtblicke werden von Trauer überschattet, zum Beispiel als er sich als Kind um seinen Neugeborenen Bruder kümmern sollte und dieser dann plötzlich verstarb. All dies wird sehr berührend dargestellt.
Die Raubüberfälle sind allerdings nicht der Grund für Jarvis‘ Todesstrafe. Kurz nach seiner Inhaftierung in das San Quentin Gefängnis in San Francisco, Kalifornien schloss er sich einer Gang an, der Black Guerilla Family, einer Linksradikalen Gefängnis- und Straßengang. Zwei Gangmitglieder ermordeten einen Gefängniswärter in San Quentin. Dies wurde von einem Mitglied verübt, mit dem Jarvis sich überworfen hatte und dieser beschuldigte ihn als Mittäter. Jarvis war nicht am Tatort, sondern soll die Tatwaffe, ein Messer, entworfen haben. Laut David Sheff wusste Jarvis nichts von der geplanten Tat und hat somit auch keine Tatwaffe gefertigt.
Die Sorge, dass Straftäter und Gewalt romantisiert werden, ist unbegründet. Alles was Jarvis Masters nachweislich getan hat wird offen behandelt, auch seine frühere Verbindung zu der Gang, von denen er sich nach dem Attentat und seiner Verurteilung distanziert hat.
Allerdings wird deutlich, dass der Autor an Jarvis Unschuld in dem zweiten Verfahren glaubt, obwohl Jarvis schon mehrere Berufungsverfahren verloren hat. Die Anklage scheint voller Fehler und Lücken. Es wird nie klar, wie es sein kann, dass Jarvis Masters zum Tode verurteilt wurde, während die beiden Gangmitglieder, welche den Mord begangen haben, nur zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurden. Laut dem Autor gibt es keine stichhaltigen Beweise, außer Aussagen von Mithäftlingen, die, wie später klar wurde, erpresst wurden. Auch die Tatsache, dass Jarvis nicht gegen seine Gang aussagen wollte, spielte wohl eine Rolle bei der Verurteilung.
Melody Ermachild, eine Kriminalistin, die von Jarvis‘ Verteidigung beauftragt wurde, sollte 1986 seine Kindheit dokumentieren, um die Richterin zu überzeugen von der Todesstrafe abzusehen. Sie brachte Jarvis auf die Idee zu meditieren, um mit seinen posttraumatischen Panikattacken umzugehen. Dort beginnt sein Weg hin zum tibetischen Buddhismus. Auch wenn man keinerlei Erfahrung mit Buddhismus oder Spiritualität hat, werden die Methoden und Thesen verständlich erklärt, sein Lebenswandel wirkt nachvollziehbar und seine Gedanken und Gefühle werden nicht dramatisiert oder beschönigt. Das Buch regt zum Nachdenken an und eröffnet durch zahlreiche buddhistische Gleichnisse neue Blickwinkel auf das Leben und den Tod.
Jarvis Weg zum Buddhismus ist ein schwerer Weg, der sehr viel Selbstreflexion und Disziplin verlangt. Seine Tiefpunkte werden eindrücklich dargestellt. Letztendlich ist er immer noch ein Mensch, der mehr Zeit im Gefängnis verbracht hat als in Freiheit, und er hat viele schwere Tage. Jedoch gibt es auch Hoffnung. Auch Jarvis hat gute Tage und schöne Momente, in denen er Mitgefangenen Alternativen aufzeigt, wie man sein Leben im Gefängnis leben kann, ohne weitere Gewalt anzuwenden. Als sich einige Gefangene beispielsweise aus Frust über das Verhalten von Gefängniswärtern einen Plan ausdenken, um sie tätlich anzugreifen, überzeugt Jarvis sie stattdessen die Toiletten zu fluten, damit die Wärter länger bleiben müssen, um alles aufzuwischen. Solche Momente gibt es immer wieder, gepaart von eindrücklichen Zitaten wie „Befreit euren Geist, und euer Hintern wird folgen“. Leichtigkeit und Schwermut gehen Hand in Hand und erschaffen eine bittersüße Atmosphäre.
Durch Melody Ermachild kommt Jarvis zum Schreiben und entdeckt eine neue Leidenschaft. Aus dem Gefängnis heraus veröffentlicht er Gedichte und ein Buch, welches zum Erfolg wird und ihm viele Anhänger einbringt, was auch der Grund für diese Biographie und seinem Bekanntheitsgrad ist.
Die Biographie ist nicht aus der Sicht von Jarvis geschrieben, sondern aus der von David Sheff, wodurch das Eintauchen Jarvis Masters‘ Gedankenwelt etwas erschwert wird. Allerdings gibt diese Distanz die Möglichkeit für einen neutraleren Blickwinkel und man versteht einige Zusammenhänge besser. David Sheff beschönigt Jarvis Leben nicht, sein Leben wird nicht von heute auf morgen besser.
Gefangen und frei zeigt eindrücklich, dass man sein Leben immer verändern kann, egal wie aussichtslos eine Situation wirkt und wie viel Macht Gedanken und innere Prozesse über das äußere Handeln von Menschen haben können. Eine große Empfehlung!