Distanzierte Betrachtung einer beeindruckenden Wandlung

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katicey Avatar

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Mit 19 Jahren wird der Afroamerikaner Jarvis Jay Masters wegen zahlreicher Gewaltverbrechen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis schließt er sich einer Gang an. Als ein Mitglied dieser Gang einen Wärter ermordet, wird Jarvis wegen Beihilfe angeklagt und noch während der Verhandlung in Isolationshaft verlegt. Für den Prozess wird die junge Kriminalistin Melody Ermachild von der Verteidigung damit beauftragt, zu dokumentieren, wie Masters aufwuchs. Aufgrund zerrütteter Familienverhältnisse hatte er seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Pflegefamiien verbringen müssen. In dieser Zeit war er fast durchgehend mit Armut und Gewalt konfrontiert. Die Verteidigung hatte gehofft, mit Offenlegung seines sozialen Hintergrundes die Todesstrafe von Masters abwenden zu können. Da dieser aber, dem Ehrenkodex der Gang folgend, nicht gegen das mutmaßlich schuldige Gangmitglied aussagt, wird er zum Tode verurteilt.

Nach einem schwierigen Start fasst Jarvis langsam Vertrauen zu Melody. Um seiner Ängste und Gefühle hinsichtlich des Ausgangs der Verhandlung Herr zu werden, rät sie ihm zur Meditation. Sie ist es auch, die ihn an das Schreiben als ein Mittel zur Vergangenheitsbewältigung heranführt.
Im Laufe des Buches begleitet man Jarvis Jay Masters auf seinem Weg vom Gewaltverbrecher hin zu einem praktizierenden Buddhisten. Dieser Weg ist gekennzeichnet von Selbstzweifeln und Rückschlägen aber auch von einer unglaublichen Stärke. Vielleicht hätte Masters in der Einsamkeit der Isolationshaft bald aufgegeben, aber er erhielt fortwährend Unterstützung von außen. Nicht nur Melody Ermachild stand ihm auf seinem Weg zur Seite, sondern auch andere Mitglieder der buddhistischen Religionsgemeinschaft, so unter anderem die bekannte Buddhistin Pema Chödrön. Seine Erkenntnisse nutzt Masters nicht nur für sich, sondern versucht auch, Mitinsassen helfend zur Seite zu stehen und antwortet u. a. auf Hilferufe, die ihn per Post von außen erreichen.

Trotz mehrmaliger Versuche während seiner 30 Jahre Gefangenschaft gelang es nie, seine Todesstrafe in einem Haftstraße umzuwandeln oder gar einen Freispruch für die Mordanklage zu erreichen. Jarvis Jay Masters ist nach wie vor physisch ein Gefangener, aber der Buddhismus und das Schreiben haben ihm geholfen, sich mit seiner Vergangenheit, seinen Taten aber auch seinen Ängsten und Gefühlen auseinanderzusetzen und mit sich selbst in Reine zu kommen und so zumindest innerlich frei zu sein.

Der Autor David Sheff ist kein Buddhist, vielleicht ist seine Schreibweise deshalb größtenteils sehr distanziert und nüchtern. Dabei geht es um die tiefgreifende persönliche Entwicklung eines Menschens verbunden mit einer Achterbahn der Gefühle aus Hoffnung, Enttäuschung, Scham, Schmerz und Liebe, um nur einige zu nennen. Als jemand, der sich mit Buddhismus nicht auskennt, fiel es mir schwer, die Entwicklung von Jarvis wirklich zu begreifen. Zu widrig erscheinen mir seine Ausgangslage vor seiner Verhaftung und seine Situation im Gefängnis. Hier wären Erläuterungen aus einer buddhistischen Sichtweise heraus sicherlich hilfreich gewesen.

Ich habe mich auch gefragt, warum Masters seine Geschichte nicht selbst aufgeschrieben hat, denn wer könnte tiefere Einblicke in seine Gefühlswelt geben als der Protagonist selbst? Zumal er selbst Autor ist und bereits Gedichte, Kurzgeschichten, Artikel und sogar zwei Bücher verfasst und veröffentlicht hat. Doch vielleicht war es eine Frage der Glaubwürdigkeit. Trotz mehrerer Ungereimheiten wurde die Frage nach Masters Unschuld bisher nie abschließend geklärt. Mit David Sheff wird seine überaus beeindruckende Geschichte nun von einem Autor mit einem neutralen Blickwinkel auf die Ereignisse erzählt und bietet somit deutlich weniger Angriffsfläche für Zweifel an deren Wahrheitsgehalt.
Insgesamt ein lesenswertes Buch, das durch die sachlich distanzierte Schreibweise des Autors sehr viel Potential verschenkt.