Transformation von Leiden

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amara5 Avatar

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Seit über 30 Jahren ist Jarvis Jay Masters kein freier Mann mehr, sondern ein Gefangener in San Quentin, der teils in langer Isolationshaft sowie im Todestrakt auf die Vollstreckung seiner Todesstrafe wartet – zu Unrecht am Tod eines Gefängniswärters verurteilt. Knallharter Gefängnisalltag, Traumata aus seiner dramatischen Kindheit, immer wieder verlorene Gerichtstermine und die Aussicht, nie mehr frei zu sein, quälen sein Innerstes: Zorn, Wut, Verzweiflung, Panikattacken und Depressionen scheinen ihn aufzufressen.

Doch er lernt die richtigen Leute kennen, die auf seiner Seite stehen und ihn zur Meditation und Achtsamkeit animieren. Erst entsetzt, was diese für Gefühlskapriolen und Ängste bei ihm freisetzen, trainiert er Meditation bald jeden Tag und erfährt durch die tiefe Freundschaft mit der bekannten buddhistischen Nonne Pema Chödrön noch stärkere Einblicke in die buddhistischen Lehren und Meditationserfahrungen. Auch durch den berühmten tibetischen Lama Rinpoche wird er eine Transformation zum Bodhisattva durchlaufen – ein Krieger, der an einem Ort des Leidens für die Überwindung des Leidens sorgt. Masters hilft seinen gepeinigten Mitgefangenen, gibt Unterricht, schreibt Bücher und Briefe und hilft Menschen, ihre Seelenqualen weitestgehend zu überstehen. Auf eine Berufung seines Urteils wird er trotz mehreren Verhandlungen vergeblich warten – doch er hat gelernt, sich trotz aller Gefangenheit und Widrigkeiten, im Inneren wie ein freier Mensch zu fühlen.

David Sheff zeichnet Masters’ Leben und Transformation ohne Kitsch nach, sondern setzt das Mosaik seines Lebens recht nüchtern, aber sehr bewegend zusammen. Zahlreiche Treffen und Veröffentlichungen haben ihn dazu veranlasst, Masters mutigen und hoffnungsvollen Weg aufzuzeigen, der jedem Leser etwas für das eigene Leben mitgeben kann. Die Überwindung von Leid ist kapitelweise durch die Vier Edlen Wahrheiten untergliedert, was präzise auf Masters Weg zugeschnitten ist: Immer wieder gibt es Passagen über seine schwere Kindheit, dann wiederum der gewaltvolle Gefängnisalltag, desillusionierende Gerichtstermine und das wiederholte Aufrappeln durch Meditation nach Rückschlägen, damit das Leiden Masters nicht auffrisst.

Besonders die Gespräche mit Pema Chödrön sind tiefberührend und augenöffnend, wie wir generell mit starken Gefühlen und schwierigen Situationen umgehen – von ihr möchte ich auf jeden Fall noch mehr lesen, aber es finden sich noch weitere Anknüpfungspunkte im Buch, die ein Leben auch außerhalb eines Gefängnisses bereichern können. Denn häufig sind es innere Gittern, hinter die wir uns selbst legen. „Gefangen und frei“ ist eine universelle Geschichte über die Chance, mit starken Widrigkeiten umzugehen.

Fazit: Trotz kleineren Logik-Unstimmigkeiten ein sinnstiftendes, hoffnungsvolles und bewegendes Buch, das nicht in Kitsch abrutscht oder Meditation in den Himmel lobt, sondern authentisch und kraftvoll aufzeigt, wie man Leiden mit viel Mut und Stärke transformieren kann – Rückschläge mitinbegriffen.

„Doch genau das war der Buddha, den er töten musste: die Illusion, dass die Rettung irgendwo außerhalb von ihm selbst zu finden sei. Ihm wurde klar, dass der Buddha dazu nicht in der Lage war, genauso wenig wie Jesus oder Allah. Nur wir selbst können uns aus unserem eigenen Leiden befreien.“
S. 128