Der Mörder ist nicht immer der Gärtner

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singstar72 Avatar

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Bei diesem Buch muss ich ausdrücklich einmal die Ausstattung loben, was für mich sonst eher zweitrangig ist. Doch hier ergeben physische Form und erzählerischer Inhalt ein äußerst stimmiges Ganzes. Wo findet man sonst noch eine so liebevolle Gestaltung - handliches Format, Soft-Einband, bedrucktes, griffiges Leinen, und ein dezent hintersinniges Einbandmotiv, Ton in Ton abgestimmt auf das Lesebändchen. Auch als physisches Objekt (und erst recht als (Weihnachts-) Geschenk ) überzeugt diese grandiose Wiederentdeckung des Klett-Cotta-Verlags.

Inhaltlich bin ich mindestens ebenso positiv überrascht. Der Name der Autorin, Mavis Doriel Hay, sagte mir bislang gar nichts – ich möchte aber zu behaupten wagen, dass es sich hier um einen völlig und Unrecht vergessenen Klassiker aus den 30 er Jahren handelt.

Erzähltechnisch haben wir es hier mit einem viktorianischen Briefroman zu tun, der ganz eindeutig von berühmten Vorbildern des Genres geprägt ist. Die Gesellschaftsschicht, die Dialoge, das Bemühen um möglichst wenig Aufsehen – all das gemahnt an Dorothy L. Sayers, mit der zusammen die Autorin ja angeblich studiert haben soll. Die eigentliche Erzähltechnik jedoch ist zu 100 Prozent von Wilkie Collins inspiriert. Wer die „Frau in Weiß“ mochte, wird von diesem Buch begeistert sein.

Wie bei Collins werden auch hier im Nachhinein verschiedene beteiligte Personen gebeten, ihre Sicht der Dinge schriftlich zu schildern. Das sind hauptsächlich Familienmitglieder , aber auch Colonel Halstock, ein Freund der Familie, der dem eigentlichen Ermittler Rousden assistiert. Die Autorin arrangiert es geschickt so, dass die Berichte in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden (obwohl zu verschiedenen Zeitpunkten abgefasst ). Dadurch, und durch die jeweils individuelle und ergänzende Sichtweise der Erzählenden, wird der Leser in die Lage versetzt, fleißig mitzuraten. Man hat also als Leser eine durchaus realistische Chance, auf die Lösung zu kommen. Allerdings ist die Autorin gewieft genug, ausreichend Überraschungsmomente einzubauen - ich gestehe, ich war die ganze Zeit über auf dem Holzweg!

Über die Handlung an sich möchte ich nicht allzu viele Worte verlieren, da gerade bei dieser Art von Landhauskrimi die Gefahr besteht, zu viel zu verraten. Und ein Landhauskrimi erster Güte ist es! Es gibt ein geradezu klassisches Setting: der gestrenge Patriarch, ein heiß ersehntes Erbe, eine angestaubte Tante, eine allzu rührige Privatsekretärin, glückliche und unglückliche Erben, ein Mord im Arbeitszimmer, und ehrwürdige Bedienstete.

Dass das Ganze auch noch an Weihnachten spielt, verleiht der Erzählung in meinen Augen ihre besondere Würze. Denn damals wie heute ist und war man darauf bedacht, sich angestrengt um Harmonie zu bemühen. Was nur selten gelingt!

Die Geschichte wird für den Leser gleich mehrfach gefiltert: schon zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens Mitte der 30er Jahre erzählte die Autorin von einer längst vergangenen Zeit, den „Goldenen Zwanzigern“. Diese Zeit wird äußerst überzeugend zum Leben erweckt, aber mit Farbtupfern. Telegramme, Chauffeure, Abende am Kamin, nachbarschaftliche Besuche, Familienanwälte, Knallbonbons und Mistelzweige - da muten die Erwähnung von Telefon und Schreibmaschine geradezu exotisch an. Auch der Wunsch der Enkelin von Sir Oswald, Architektur zu studieren, darf in diesem Sinne als ausgesprochen fortschrittlich gewertet werden.

Ich kann zusammenfassend eigentlich nur sagen, dass an diesem Buch eigentlich alles für mich stimmig war. Besonders nett fand ich die tabellarische Auflistung aller möglichen Motive und Gelegenheiten am Ende, sowie den Grundriss des Familiensitzes Flaxmere - so konnte man seine eigenen Vermutungen überprüfen, und der Handlung leichter folgen. Auch die kongeniale Übersetzung von Barbara Heller möchte ich lobend erwähnen. Ich werde dieses kleine Juwel mit Sicherheit weiterempfehlen und (nicht nur zu Weihnachten ) verschenken …!