Eine Kapitalismuskritik voller Biss, Zynismus und trockenem Humor

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nessabo Avatar

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Marisa befindet sich in dem Widerspruch, in welchem sich wohl alle kapitalismuskritischen Menschen befinden: Sie durchblickt die Wirkweisen von Werbung, Patriarchat und Wettbewerbskultur, kann sich selbigen aber nicht vollends entziehen. Stattdessen arbeitet sie sogar selbst seit Jahren in einer Werbeagentur und trägt so auch aktiv zu unnötigem Konsum bei. Die Protagonistin ist von ihrem Bullshit-Job abgrundtief gelangweilt und versucht, so wenig wie möglich in ihn zu investieren. Deshalb tut sie 90 % der Zeit eigentlich nur so, als würde sie gerade etwas ganz Wichtiges erledigen oder wäre völlig von den Socken ob eines neuen Produkts, welches wieder einmal absolut gar keinen Mehrwert für die Menschen haben wird.

Der Text ist bissig und stellenweise bitterböse, was ich thematisch absolut passend und einfach großartig fand! Mehrfach habe ich laut aufgelacht, obwohl die Situation eigentlich zum Schreien wäre. Wer kein Problem hat mit trockenem Humor und Zynismus, wird das bestimmt ähnlich empfinden.

Primär habe ich mit der Protagonistin mitgelitten, aber richtig sympathisch wurde sie (und damit auch die Autorin) mir aufgrund von 2 Stellen. Zum einen ist sie überaus freundlich zu den Stadttauben, die sie trifft, und erkennt deren Wert als zu Unrecht verachtete Wesen an. Zum anderen gibt es eine kurze Sequenz, in der über 6arbeit als das gesprochen wird, was sie eben ist: Arbeit. Nicht mehr und nicht weniger, hier wird weder glorifiziert noch verteufelt. Wir alle müssen Geld verdienen und wenn wir das nicht müssten, würden wir wahrscheinlich nicht lohnarbeiten - egal, in welchem Feld.

Die erste Hälfte des Buches war schon echt deprimierend, weil Marisa so feststeckt in ihrem nachvollziehbaren Frust und dabei auch ziemlich isoliert ist. Aber dann liefert uns die Autorin glücklicherweise Erleichterung in Form eines tollen Gesprächs mit einer früheren Freundin. Beide öffnen sich, sind ehrlich miteinander und können darüber connecten. Das war Balsam für’s Herz und kommuniziert deutlich: Ein Leben im Falschen kann nur im Miteinander irgendwie richtig werden.

Den E-Mail-Verlauf kurz vor Ende fand ich einfach HILARIOUS! 🤣 Zum Schluss selbst habe ich wiederum ambivalente Gefühle und kann nicht abschließend beurteilen, ob ich ihn gelungen fand. Zum einen ändert sich kurzzeitig der Erzählstil, zum anderen ist er einfach ziemlich realitätsfern. Gleichzeitig greift er einen wiederholten Gedanken Marisas auf und ich wüsste auch nicht wirklich, wie die Geschichte besser hätte enden können. Ich spreche deshalb eine klare Leseempfehlung mit Diskussionspotenzial aus.

4,5 ⭐️